@ E.R.O.S.
seltsames Kribbeln in der Brust, greife nach dem Zündschlüssel und schalte den Motor aus. Sie schließt die Tür wieder und sinkt in ihren Sitz zurück.
Wir sitzen in der drückenden Stille, und der abkühlende Motor tickt wie eine kaputte Uhr. Ich will gerade vorschlagen, daß wir aussteigen und reden, als sie sagt: »So schlimm das alles auch ist ... von einem bin ich überzeugt. Wir waren füreinander bestimmt. Das habe ich immer gewußt, und auch alle anderen, die uns je gekannt haben.«
Sie schaut nicht zu mir, sondern durch die Windschutzscheibe. Hundert Sätze springen mir in den Kopf; alle klingen genau berechnet und hohl.
»Ich habe nachgedacht«, sagt sie und beobachtet ein älteres Ehepaar, das aus dem rundbögigen Eingang schlurft.
»Wir sind schon zu lange hier. In Rain, meine ich. Es ist zu sicher hier. Ich weiß, das klingt lächerlich, wenn man bedenkt, was uns hier widerfahren ist. Aber vielleicht ist es genau deshalb passiert. Verstehst du? Wir haben zu sehr nach hinten geschaut. Zu dem Land, auf dem wir aufwuchsen, zu unseren Familien, ihren Erinnerungen.« Endlich dreht sie sich zu mir um, und ihre Augen sind voller Überzeugung. »Wir werden auf diesem Boden nicht gedeihen, Harper. Wir müssen unseren eigenen Platz finden.«
In diesen Worten höre ich, wie die Tür zu meiner Zukunft sich öffnet. »Ich liebe dich, Drewe. Ich habe dich immer geliebt. Sag mir nur, wohin du gehen willst.«
Sie lächelt und legt eine Hand auf meine. »Laß mir anderthalb Stunden Zeit. Dann komm zurück und hole mich ab.«
Erregung beschleunigt mein Blut. »Du kommst heute abend nach Hause?«
»Ja. Um zu packen.«
»Wohin fahren wir?«
»Wir ziehen um, Harper. Morgen, wenn nicht sogar noch heute.«
»Wohin?«
»Für den Anfang mieten wir uns ein Haus in Jackson. Danach suchen wir uns etwas anderes. Wo wir wollen. Es ist an der Zeit für einen Aufbruch.«
Ich suche ihr Gesicht nach Anzeichen von Zweifeln ab, finde aber keine. Ich will aussteigen und sie zur Tür bringen, aber sie hält mich davon ab, indem sie sich über die Konsole beugt und mich auf die Wange küßt.
»Hole mich schon in einer Stunde ab«, sagt sie. Noch immer wegen Drewes Kuß im siebten Himmel, fahre ich auf den Parkplatz eines Supermarkts und gehe zu einem Münztelefon. Die Telefonzentrale des Kings Daughters Hospital verbindet mich mit einer Krankenschwester in der Notaufnahme, die schließlich Special Agent Wes Killen ans Telefon holt.
Ich entschuldige mich, bevor ich Killen sage, wer ich bin,und danach noch einmal. Er hört sich meine Erklärung mit professioneller Distanz an und stellt dann Fragen, als ich ihm die Geschichte mit der Sonnenbrille erzähle. Er verspricht mir, daß das FBI sich bei den Fluggesellschaften nach allen Passagieren erkundigt, die »den Leuten aus New York« ähneln, die ich bei der Beerdigung gesehen habe.
Killen wird, so unglaublich es mir vorkommt, auf den Friedhof zurückkehren und seine Wache an Erins Grab fortsetzen müssen. Er macht sich sogar Vorwürfe, daß er seinen Posten verlassen mußte, um sich die Nase zusammenflicken zu lassen. Nachdem er mir seine Handynummer gegeben hat, damit ich ihn in einem Notfall erreichen kann, entschuldige ich mich noch einmal und hänge dann ein. Als ich zu unserem Farmhaus zurückfahre, habe ich den Eindruck, auf einer Straße zu sein, die ich noch nie gesehen habe. Weil es nicht mehr die Straße ist, die nach Hause führt. Es ist die Straße, die in die Ferne führt. Die Drewe und mich aus der Vergangenheit und in unsere Zukunft bringen wird. Die Ereignisse, die uns zu diesem Punkt geführt haben, sind zu schmerzlich, als daß ich mich auf sie konzentrieren könnte, doch sie haben uns von uns selbst erlöst. Zum ersten mal gestehe ich mir die Möglichkeit ein, daß der geisteskranke Mörder, der in meine Gitarre gepißt und dies für die Nachwelt festgehalten hat, vielleicht tatsächlich auf dem Grund des Mississippi treibt und Welse sich in seine Leiche wühlen oder Hornhechte sie in Stücke reißen.
Als ich den Streifenwagen sehe, der neben unserem Briefkasten steht, wird mir klar, wie paranoid ich Sheriff Buckner vorkommen muß. Doch als ich unter der Trauerweide neben unserer Veranda parke, kehrt meine Besorgnis zurück. Der alten Furcht Beachtung schenkend, greife ich unter den Sitz, hole den .38er hervor und umklammere ihn, während ich die Haustür öffne.
Der Geruch nach Tränengas und Clorox ist noch sehr stark, und das Haus kommt mir leer vor.
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