@ E.R.O.S.
In der Tat kommt es mir sogar eher vor wie ein Haus, in dem ich einmal gewohnthabe, und nicht wie das, das seit vier Generationen im Besitz meiner Familie ist. Dieses Gefühl macht mich verlegen, als hätte ich das Vertrauen meiner Vorfahren mißbraucht. Doch würde mein Urgroßvater noch leben, würde er mir wahrscheinlich verzeihen. Er kam aus Schottland nach Mississippi, und trotz der Liebe zu diesem Land sah er diese primitivste aller Wahrheiten ein: Manchmal müssen Menschen fortziehen, wenn sie überleben wollen.
Ich öffne alle Fenster im Haus, in der Hoffnung, Drewe zuliebe einen Teil des Gestanks herauszubekommen. Dann hole ich mein Adreßbuch hervor und rufe jede Bank und jeden Broker an, bei denen ich Geld angelegt habe. Mit den Kontoständen in der Hand gehe ich zu meinem Gateway 2000, lade Quicken – das ich seit Wochen vernachlässigt habe – und bringe alle Konten auf den neuesten Stand. Dann zähle ich die Summen zusammen.
Das Ergebnis ist ziemlich erfreulich.
Meine Uhr verrät mir, daß ich Bobs Haus mit zehn Minuten Verspätung erreichen werde, wenn ich von der üblichen Fahrzeit von zwanzig Minuten ausgehe. Ich greife mir die Schlüssel und den .38er und trabe zur Haustür. Meine Hand liegt schon auf dem Knopf, als das Telefon klingelt. Ich bleibe stehen und lausche dem Anrufbeantworter, für den Fall, daß es Drewe ist. Statt dessen höre ich die Stimme von Arthur Lenz.
»Hallo? Cole, heben Sie ab, wenn Sie da sind.«
»Ich bin da!« rufe ich und spurte zu dem Gerät zurück. Ich drücke auf den MEMO-Knopf, um Lenz’ Worte aufzuzeichnen, und schnappe mir dann das Schnurlose. »Ich höre, Doktor.«
»Oh. Gut. Ich habe mit einem der Männer gesprochen, die Persönlichkeitsprofile erstellen sollen und die Daniel auf den Fall EROS angesetzt hat. Einem Mann, den ich ausgebildet habe. Ich bin jetzt mit den neuen Daten über Berkmann vertraut.«
»Und?«
»Ich habe selbst ein Profil erstellt.«
»Schießen Sie los.«
»Ich glaube, unser übliches Klassifizierungssystem – organisiertes Verhalten im Gegensatz zu nicht organisiertem – ist unzureichend, um Edward Berkmann zu beschreiben. Bis vor kurzem hat er nicht aus einem unbeherrschbaren Drang heraus getötet. Und er hat auch nicht bei jedem Mord eine bessere Technik entwickelt, wie es bei den meisten Mördern der Fall ist. Er war wie Mozart. Vom ersten Verbrechen an hat er sein Genie bewiesen. Er hat nicht nur die Tatorte inszeniert, er schien unsere jeweiligen Klassifizierungskriterien zu kennen und hat dementsprechend die Beweise manipuliert, damit der Computer keine Übereinstimmungen feststellen konnte. Dementsprechend hatte er keine Verbrechenssignatur. ›Superorganisiert‹ wäre der Ausdruck, für den ich mich entscheiden würde.«
»Na schön.«
»Kein Serienmörder hat bislang in dem Ausmaß in der Gesellschaft funktioniert, wie es bei Berkmann der Fall ist. Die einzig mögliche Parallele wäre der königliche Leibarzt, den man der Whitechapel-Morde verdächtigt – der Fall Jack the Ripper –, aber es wurde nie bewiesen, daß er der Täter war. Was reine Intelligenz und Ausbildung angeht – war – oder ist – Berkmann wahrscheinlich neunundneunzig Prozent der Leute, die ihn jagen, überlegen.«
»Das ist schmerzhaft offensichtlich.«
»Sie haben an diesem Abend in meinem Wagen tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen, Cole. Bis vor kurzem hat Berkmann aus einem völlig rationalen Grund getötet. Die Transplantation des menschlichen Zirbeldrüsengewebes ist theoretisch möglich und könnte bedeutende therapeutische Wirkungen haben. Als Neurochirurg war Berkmann klar, daß er diese Prozedur unter den derzeitigen Versuchsrichtlinien niemals entwickeln könnte. Er kam einfach zum Schluß, es sei ein paar Menschenleben wert, den Versuch zu unternehmen. Vor gar nicht mal so langer Zeit hat die offizielle amerikanischeMedizin ähnliche Forschungsentscheidungen getroffen und dabei auf Strafgefangene zurückgegriffen.«
»Sie hören sich an, als würden Sie sein Vorgehen verteidigen.«
»Ich stelle lediglich klar, daß die moralische Frage von der rein wissenschaftlichen Betrachtungsweise zu trennen ist. Sie ist unerheblich, was die Analyse des Motivs betrifft, ganz besonders, wenn man versucht, sein zukünftiges Verhalten vorherzusagen.«
»Wohin führt das alles?«
»Berkmann sah sich gewissermaßen als eine Art modernen Prometheus. Er trotzt dem göttlichen Gesetz, um das Feuer für die Menschheit zu stehlen. Feuer
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