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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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langer Zeit hätte sie über eine solche Äußerung gelacht. Doch jetzt war sie nicht mehr sicher. Die Welt war ein seltsamer Ort. Sie schaute zu Steve und dem Vikar hinauf und sah dann wieder ihre Schwester an. »Du hast mir nie etwas von einer ›Warnung‹ erzählt. Was für eine Warnung war das? Und wann hast du sie bekommen?«
    »Wann?« Sally schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ganz sicher. Aber ich glaube, es war an dem Tag, als die Sache mit Lorne Wood anfing.«

ERSTER TEIL

1
    Es war ein Frühlingsnachmittag Anfang Mai gewesen, als die Abende wieder länger wurden und die Primeln und Tulpen unter den Bäumen schon zerfranst und unordentlich aussahen. Die ersten Anzeichen wärmeren Wetters hatten alle in gute Laune versetzt, und zum ersten Mal seit Monaten war Sally zu Isabelle zum Lunch gekommen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und ihre halbwüchsigen Kinder waren im Garten. Die beiden Frauen machten eine Flasche Wein auf und blieben in der Küche. Die Fenster waren offen, die Baumwollvorhänge wehten leicht im Wind, und von ihrem Platz am Tisch aus konnte Sally die Teenager beobachten. Sie kannten einander seit dem Kindergarten, aber erst seit ungefähr einem Jahr kam Millie wirklich gern hierher. Jetzt waren sie eine Bande, eine richtige kleine Clique: zwei Mädchen, zwei Jungen, zwei Jahre auseinander, aber auf derselben Privatschule, Kingsmead. Sophie, mit fünfzehn Isabelles Jüngste, machte im Garten Handstand, und ihre dunklen Locken schwangen wild umher. Millie, genauso alt, aber einen Kopf kleiner, hielt ihre Beine fest. Beide Mädchen trugen ähnliche Jeans und Neckholder-Tops, aber im Vergleich zu Sophies Kleidern waren Millies Sachen ausgeblichen und verschlissen.
    »Ich muss da was machen«, sagte Sally nachdenklich. »Ihre Schuluniform hält auch nicht mehr lange. Ich war bei der Hausmutter, um zu sehen, ob ich eine Second-Hand-Uniform kriegen kann, aber sie hatte in Millies Größe nichts mehr da. Anscheinend kaufen alle Eltern von Kingsmead nur noch Second Hand.«
    »Alle müssen den Gürtel etwas enger schnallen«, sagte Isabelle. Sie machte einen Sirupkuchen und beschwerte gerade den Teigboden mit einer Handvoll Murmeln, die sie in einem Glas auf dem Kühlschrank aufbewahrte. Die Butter und der goldene Sirup blubberten im Topf und erfüllten die Küche mit ihrem schweren, nussigen Duft. »Ich habe Sophies Sachen immer der Hausmutter gebracht.« Sie hatte die Murmeln auf dem Teig verteilt und schob die Form in den Ofen. »Aber von jetzt an hebe ich sie für Millie auf. Sophie trägt eine Nummer größer als sie.«
    Sie wischte sich die bemehlten Hände an der Schürze ab, blieb einen Moment stehen und betrachtete ihre Freundin. Sally wusste, was sie dachte: Ihr Gesicht war blass und faltig, ihr Haar ungewaschen. Wahrscheinlich sah Isabelle vor ihrem geistigen Auge die pinkfarbene Schürze der Gebäudereinigungsfirma »HomeMaids«, die Sally sonst über verblichenen Jeans und einem Top mit Blumenmuster trug, und empfand Mitleid. Nach all der Zeit fing sie langsam an, sich an Mitleid zu gewöhnen. Natürlich war es die Scheidung. Die Scheidung und Julians neue Frau und ihr Baby.
    »Ich wünschte, ich könnte ein bisschen mehr tun, um zu helfen.«
    »Du hilfst doch, Isabelle.« Sie lächelte. »Du sprichst noch mit mir. Das ist mehr, als die anderen Mums in Kingsmead tun.«
    »Ist es so schlimm? Immer noch?«
    Schlimmer, dachte sie. Aber sie lächelte. »Es wird schon wieder.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich. Ich meine – ich habe mit der Bank gesprochen und meine Kredite hin und her geschoben, sodass ich nicht mehr so hohe Zinsen zahlen muss. Und ich kriege jetzt mehr Stunden von der Agentur.«
    »Ich weiß nicht, wie du das schaffst.«
    Sally zuckte die Achseln. »Das schaffen andere Leute auch.«
    »Ja, aber andere Leute sind solche Arbeit gewöhnt.«
    Sie sah zu, wie Isabelle an den Herd trat und im Sirup rührte. Daneben standen offene Tüten mit Mehl und Haferflocken. Auf allen Artikeln standen Namen wie »Waitrose« oder »Finest« oder »Goodies Delicatessen«. Zu Hause im Cottage bei Sally und Millie stand »Aldi« oder »Lidl« auf den Packungen, und das Gefrierfach war voll von dem kümmerlichen, faserigen Grünzeug, das sie mühsam im Garten herangezogen hatte. Das war eine Lektion, die Sally sehr schnell gelernt hatte: Gemüsezucht war eine Beschäftigung für Reiche, die nichts zu tun hatten. Viel billiger war es, so etwas im Supermarkt zu kaufen. Jetzt nagte sie am

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