Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
war Millie das Modell gewesen, aber auf dieser Karte war etwas mit ihrem Gesicht passiert. Sally strich mit dem Finger darüber und drückte darauf. Vielleicht war das Acryl rissig geworden oder hatte sich irgendwie gelöst, denn Körper, Kleidung und Hintergrund waren noch so, wie sie sie gemalt hatte, aber das Gesicht war verschwommen. Es sah aus wie auf einem Gemälde von Francis Bacon oder Lucian Freud. Auf einem dieser erschreckenden Bilder, auf denen man durch die Haut der Figuren hindurchzuschauen und geradewegs das Fleisch zu sehen glaubte.
»Igitt«, sagte Isabelle. »Ich bin froh, dass ich an solchen Kram nicht glaube. Sonst wäre ich jetzt wirklich beunruhigt. Als wär’s eine Warnung oder so was.«
Sally sagte nichts. Sie starrte das Gesicht an. Es war, als sei da eine Hand gewesen und habe Millies Züge verwischt.
»Sally? Du glaubst doch nicht an solche Sachen, oder?«
Sally schob die Karte unter den Stapel. Sie hob den Kopf und klapperte mit den Lidern. »Natürlich nicht. Sei nicht albern.«
Isabelle trug den Topf zurück zum Herd. Sally legte die Karten unordentlich zusammen, verstaute sie wieder in ihrer Tasche und trank hastig einen Schluck Wein. Sie hätte das Glas gern auf einen Zug leergetrunken, um das Unbehagen loszuwerden, das sich in ihrem Magen zusammengezogen hatte. Gern hätte sie sich ein bisschen angesäuselt mit Isabelle draußen in der Sonne in einen Liegestuhl gelegt, wie sie es früher getan hatten – damals, als sie noch einen Mann hatte und mit ihrer Zeit anfangen konnte, was sie wollte. Damals war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Glück sie hatte. Jetzt konnte sie nicht in der Sonne sitzen und trinken, nicht mal sonntags. Den guten Wein, den Isabelle trank, konnte sie sich nicht leisten. Und wenn der Lunch hier vorbei wäre, würde sie nicht in den Garten, sondern zur Arbeit gehen. Vielleicht, dachte sie und rieb sich müde den Nacken, hatte sie genau das ja verdient.
»Mum? Mum !«
Die beiden Frauen drehten sich um. Millie stand in der Tür, rot und atemlos. Ihre Jeans war voller Grasflecken, und sie hielt ihnen ihr Telefon in der erhobenen Hand entgegen.
»Millie?« Sally richtete sich auf. »Was ist denn?«
»Können wir Ihren Computer einschalten, Mrs. Sweetman? Sie twittern alle darüber. Es ist wegen Lorne. Sie ist verschwunden.«
2
Auf dem Polizeirevier, nur zwei Meilen weit entfernt im Zentrum von Bath, war Lorne Wood das einzige Gesprächsthema. Die sechzehnjährige Schülerin einer Privatschule am Ort – der Faulkener’s – war beliebt und nach Auskunft ihrer Eltern ziemlich zuverlässig. Vom ersten Augenblick an hatte Sallys Schwester, Detective Inspector Zoë Benedict, keine Sekunde lang daran geglaubt, dass man sie lebend wiedersehen würde. Vielleicht war das einfach Zoës Art – sie war viel zu pragmatisch –, aber als dann ein Mitglied des Suchtrupps, der das Unterholz am Ufer des Kennet and Avon Canal absuchte, um zwei Uhr nachmittags eine Leiche fand, überraschte sie das kein bisschen.
»Nicht, dass ich solche Sprüche bringen würde wie ›Was hab ich gesagt?‹ oder so«, sagte sie leise zu Detective Inspector Ben Parris, als sie zusammen den Leinpfad entlanggingen. Sie hatte die Hände in den Taschen der schwarzen Jeans, die sie, wie der Superintendent ihr immer vorhielt, als leitender Officer nicht tragen sollte. »Diese Worte wirst du aus meinem Munde niemals hören.«
»Selbstverständlich nicht.« Er wandte den Blick nicht von der kleinen Menschentraube vor ihnen. »Das passt nicht zu dir.«
Der Fundort war bereits abgesperrt, und tragbare Sichtblenden standen quer auf dem Weg. Davor lungerten zehn, zwölf Leute herum, Bootsbesitzer hauptsächlich, aber von der Presse war auch schon einer da. Er trug eine schwarze Regenjacke, und als die beiden DIs sich mit erhobenen Dienstausweisen vorbeidrängten, hielt er seine Nikon hoch und machte ein paar Aufnahmen. Er war ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Sache sich mit einem Tempo herumsprach, bei dem die Polizei nicht mehr mithalten konnte, dachte Zoë.
Die abgesperrte und vor den Augen der Öffentlichkeit abgeschirmte Fläche war fast zweitausend Quadratmeter groß. Der Weg war mit lockerem Kies bedeckt und auf der einen Seite von den Binsen des Kanalufers gesäumt, auf der anderen von struppigem Unkraut – Wiesenkerbel, Brennnesseln und Gras. Die Polizisten hatten einen Abstand von ungefähr fünfzig Metern zwischen den äußeren Sichtblenden und der inneren, durch Flatterband
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