Atemlose Begierde
so
lange übergeben, bis ich allen Alkohol wieder einigermaßen aus meinem System
entfernt hatte und irgendwie in den Schlaf fand. Mein Schädel wummerte Tag und
Nacht. Ich lebte vom Geld meiner Eltern, war manisch, rastlos, desorientiert und
hatte es satt, wusste aber nicht, wie ich da rauskommen sollte. Mein damaliger
Freund war ein durchgeknallter Barkeeper und schwer auf Ecstasy. Unser Leben war
Party. Dann erschien Ivo am Horizont, und mit ihm ging die Sonne auf. Schritt
für Schritt veränderte sich meine Welt. Ivo wurde mein Ruhepol, der mir Halt gab
und mir die Türen zur Kunstwelt eröffnete. Ich schaffte mein Studium in Berlin
zwar nicht zu Ende zu bringen, dafür gingen wir aber nach London. Ivo, um für
ein bescheidenes Gehalt für ein renommiertes Architekturbüro zu arbeiten, und
ich, um endlich auch einen Studienabschluss zu bekommen, den ich mir nun
mühevoll mit Stipendien und Nebenjobs finanzierte. Der Geldhahn meiner Eltern
war endgültig zugedreht. Wir hatten nicht sehr viel, aber standen uns
gegenseitig bei. Ich genoss seine innere Ruhe. Sie half mir, mich selbst zu
finden. Und jetzt, viele Jahre später, schien sich ein Kreis zu schließen.
Wieder hatte ich einen Ausflug ins Reich der Finsternis gewagt und musste
dringend von Ivo gerettet werden. Mit dieser Hoffnung schlief ich ein.
Beim Frühstück waren Tara und John bereits damit beschäftigt, das
genaue Menü zusammenzustellen. Sie hatten extra einen Koch für den heutigen
Abend engagiert. Ich war gutgelaunt aufgewacht, aber nun zogen wieder
Gewitterwolken über mich herein, sobald ich daran dachte, wie sehr ich Ricks
Begehren mir gegenüber missdeutet hatte. Ich konnte nichts essen. Trank nur
Rosenblüten-Tee mit viel Milch.
»Guten Morgen, weißt du schon, ob du heute Abend zum Essen kommst?«,
fragte John.
»Ganz ehrlich, ich weiß es noch nicht. Kann ich euch das heute Mittag
sagen?«
»Warum willst du nicht dabei sein? Es wird bestimmt eine
phantastische Dinnerparty«, fragte John erstaunt.
»John, ich möchte Rick nicht sehen.«
»Rick?«
»Richard.«
»Aber er ist doch ein langjähriger Freund von euch, ein netter
Zeitgenosse übrigens.«
»Ja, er ist nett, aber er war gestern ganz und gar nicht nett zu
mir.«
John hatte keine Ahnung. Sicher fand er mich zickig. Männer hatten ja
untereinander andere Codes, mit denen sie sich verständigten. Er hielt Rick für
einen gepflegten ehemaligen Internatsschüler, wie er selber einer war. Er war
hingerissen von ihm und interessierte sich gar nicht für meine Wehwehchen.
»Sag es uns einfach, wofür du dich auch immer entscheidest«, sagte
John.
Ich telefonierte rum, verabredete mich spontan mit Oksana in der Tate
Modern, musste meine E-Mails durchsehen und mich auf das Interview vorbereiten,
das heute Nachmittag für die Kunstzeitschrift stattfinden sollte. Immerhin hatte
Victoria extra dafür meinen Flug verschoben. Sosehr ich es auch versuchte, ich
war unfähig, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Dass ich die letzten Tage
im Kopf woanders gewesen war, machte sich nun bemerkbar. Ich konnte es nicht
fassen. Rick hatte diese Wirkung auf mich. Er hatte mich wieder in seinen Bann
gezogen, und ich verlor langsam den Boden unter den Füßen. Ich fühlte mich dem
Delirium nahe.
Ich musste die Sache mit Rick vor heute Abend klären und versuchte
ihn zu erreichen. Meine Klingeltöne schallten ins Universum, aber er reagierte
nicht auf sie. In seinem Büro rief ich ihn an, erreichte nur Beth. Er war nicht
für mich zu sprechen. Ich sendete ihm etliche SMS, in denen ich ihn bat, mich
zurückzurufen. Außerdem hatte ich ihm in kurzen Abständen vier Mails geschickt.
Keine Antwort. Ich trank Kaffee, rauchte im Garten mehrere Zigaretten.
Entspannung war weit von mir entfernt. Ich war unfähig, menschliche Kontakte zu
pflegen, ich misshandelte die Menschen, die mir am Herzen lagen. Was war mit Ivo
nur so schiefgelaufen, dass ich mich Rick an den Hals geworfen hatte? Wenn ich
ehrlich war, war Ivo aber in Wahrheit schon lange nicht mehr der Retter von
damals, nach dem ich mich am Vorabend gesehnt hatte. Er war zynisch und
verängstigt geworden und rettete nur noch seine Karriere. Wie sehr er mich damit
quälte, dass er sich gedanklich überhaupt nicht mehr aus seiner beruflichen Welt
befreien konnte, ahnte er gar nicht. Bei keinem Abendessen, bei keinem Frühstück
war er tatsächlich geistig anwesend. Immer am Sprung zum Computer, zu seinen
Kollegen oder am Handy. Endlose Fachsimpelei, und
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