Atemschaukel
erste Frostbeule. Sowohl die Holzschuhe als auch die Galoschen waren den ganzen Winter an die Fußlappen angefroren. Und die Fußlappen an die Haut. Die Gummigaloschen waren zwar noch kälter als die Holzschuhe, aber sie hielten Monate.
Die Arbeitskleidung, eine andere Kleidung gab es ja nicht, also die Lagerkleidung, die Uniform für Internierte, wurde halbjährlich ausgeteilt. Zwischen Männer- und Frauenkleidung gab es keinen Unterschied. Außer den Holzschuhen und Gummigaloschen gehörte zur Arbeitskleidung Unterwäsche, Watteanzug, Arbeitshandschuhe, Fußlappen, Bettzeug, Handtuch und ein Stück von einem Barren abgehackte Seife, die streng nach Sodium roch. Sie brannte auf der Haut, von den Wunden hat man sie besser ferngehalten.
Die Unterwäsche war aus ungebleichter Leinwand: 1 lange Unterhose, an den Knöcheln und vorn am Bauch mit Schnüren, 1 kurze Unterhose mit Schnüren, 1 Unterhemd mit Schnüren, das alles in einem war Unterobertagnachtsommerundwinterhemd.
Der Watteanzug hieß Pufoaika, ein Steppdeckenanzug mit Längswülsten. Die Pufoaika-Hose hatte einen Keilschnitt für dicke Bäuche und enge Fesseln mit Schnüren an den Knöcheln. Nur vorne am Bauch war ein Knopf und rechts und links zwei Hosentaschen. Die Pufoaika-Jacke war sackförmig mit Stehkragen, genannt Rubaschka-Kragen, und hatte Manschetten mit einem Knopf am Arm, vorne eine Knopfreihe und seitlich zwei draufgesetzte viereckige Taschen. Als Kopfbedeckung hatten Männer wie Frauen Pufoaika-Mützen mit Ohrenklappen, daran Schnüre.
Die Pufoaika-Farben waren blaugrau oder grüngrau, je nachdem, wie das Färben ausgefallen war. Nach einer Woche war der Anzug sowieso dreckstarr und braun von der Arbeit. Die Pufoaikas waren eine gute Sache, die wärmste Kleidung draußen im trockenen Winter, wenn der Frost funkelte und der Atemhauch ans Gesicht fror. Und im Glutsommer waren die Pufoaikas weit genug, die Luft konnte zirkulieren und den Schweiß trocknen. Doch bei nassem Wetter waren die Pufoaikas eine Plage. Die Watte saugte sich voll mit Regen und Schnee und blieb wochenlang nass. Man klapperte mit den Zähnen, bis abends war man unterkühlt. In der Baracke mit den 68 Bettgestellen und 68 Internierten mit ihren 68 Wattemonturen, 68 Mützen, 68 Paar Fußlappen und 68 Paar Schuhen dampfte trübe Luft. Und wir lagen wach und schauten ins gelbe Dienstlicht, alswäre darin die Schneeschmelze. Und in der Schneeschmelze der Nachtgestank, der uns mit Walderde zudeckte und mit vermodertem Laub.
Aufregende Zeiten
Nach der Arbeit bin ich statt ins Lager ins Russendorf betteln gegangen. Am UNIVERMAG stand die Tür offen, der Laden war leer. Die Verkäuferin beugte sich über einen Rasierspiegel auf dem Pult und suchte ihren Kopf nach Läusen ab. Neben dem Rasierspiegel lief der Plattenspieler, Tatatataaa. Das kannte ich von zu Hause aus dem Radio, Beethoven mit den Sondermeldungen vom Krieg.
Mein Vater hatte sich schon 1936 für die Olympischen Spiele in Berlin den Blaupunkt mit dem grünen Katzenauge gekauft. In diesen aufregenden Zeiten, sagte er. Der Blaupunkt hatte sich ausgezahlt, später wurden die Zeiten noch aufregender. Es war drei Jahre später, Anfang September und wieder die Zeit des kalten Gurkensalats im Schatten auf der Veranda. Auf dem Ecktischchen stand der Blaupunkt, an der Wand daneben hing die große Europakarte. Aus dem Blaupunkt schallte das Tatatataaa, Sondermeldung. Der Vater kippte den Stuhl, bis sein Arm zum Radioknopf reichte, und stellte den Ton laut. Alle hörten auf zu reden und mit dem Besteck zu klappern. Sogar der Wind horchte durchs Verandafenster. Was am 1. September begonnen hatte, nannte mein Vater Blitzkrieg. Die Mutter sagte Polenfeldzug. Mein Großvater hatte, von Pula aus, als Schiffsjunge eine Weltumsegelung hinter sich und war ein Skeptiker. Den interessierte immer, was die Engländer zu der Sache sagen. Zu Polen nahm er lieber noch einen Löffel Gurkensalat und schwieg. Meine Großmutter sagte,dass Essen eine Familiensache ist und mit der Politik im Radio nicht zusammenpasst.
Im Aschenbecher neben dem Blaupunkt hatte mein Vater, er war Zeichenlehrer, auf Stecknadeln mit bunten Köpfen dreieckige rote Siegesfähnchen montiert. 18 Tage rückte der Vater seine Fähnchen auf der Karte ostwärts. Dann wars, sagte Großvater, mit Polen vorbei. Und mit den Fähnchen. Und mit dem Sommer. Die Großmutter zupfte die Fähnchen von der Europakarte und von den Stecknadeln und räumte die Stecknadeln in ihre
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