Atemschaukel
Eisengitter.
Am Abend auf dem Heimweg im Schlurfen der Schritte hab ich mir oft gesagt: Der Zement wird immer weniger, er kann von sich aus verschwinden. Ich bin doch auch aus Zement und werde auch immer weniger. Wieso kann ich nicht verschwinden.
Die Kalkfrauen
Eine von den acht Brigaden auf der Baustelle sind die Kalkfrauen. Sie ziehen den Pferdewagen mit den Kalkbrocken erst den abschüssigen Hang neben dem Pferdestall hinauf, dann hinunter an den Baustellenrand, wo die Löschgrube ist. Der Wagen ist ein großer trapezförmiger Holzkasten. Die Frauen sind um die Schultern und Hüften zu fünft auf jeder Seite der Deichsel in Lederriemen gespannt. Ein Begleitposten geht nebenher. Von der Anstrengung beim Ziehen haben die Frauen dicke nasse Augen und den Mund halboffen.
Eine von den Kalkfrauen ist die Trudi Pelikan.
Wenn der Regen die Steppe wochenlang vergisst und der Schlamm um die Löschgrube wie Pelzblumen verdorrt, werden die Schlammfliegen zudringlich. Die Trudi Pelikan sagt, Schlammfliegen riechen das Salz in den Augen und die Süße am Gaumen. Und je schwächer man ist, umso stärker tränen die Augen und umso mehr zuckert sich der Speichel.
Die Trudi Pelikan wurde ganz hinten eingespannt, weil sie für vorne schon zu schwach war. Die Schlammfliegen setzten sich nicht mehr in die Augenwinkel, sondern ins Auge auf die Pupille, und nicht mehr auf die Lippen, sondern in den Mund hinein. Die Trudi Pelikan kam ins Torkeln. Als sie hinfiel, rollte der Wagen über ihre Zehen.
Interlope Gesellschaft
Die Trudi Pelikan und ich, Leopold Auberg, waren aus Hermannstadt. Bevor wir in den Viehwaggon klettern mussten, kannten wir uns nicht. Artur Prikulitsch und Beatrice Zakel, also Tur und Bea, kannten sich schon als Kinder. Sie kamen aus dem Gebirgsdorf Lugi aus dem Dreiländereck der Karpato-Ukraine. Aus derselben Gegend, aus Rakhiv, kam auch der Rasierer Oswald Enyeter. Auch der Akkordeonspieler Konrad Fonn kam aus dem Dreiländereck, aus dem Städtchen Sucholol. Mein Lastautokompagnon Karli Halmen kam aus Kleinbetschkerek, und Albert Gion, mit dem ich später im Schlackekeller war, kam aus Arad. Die eine Sarah Kaunz mit den Seidenhärchen auf den Händen kam aus Wurmloch, die andere Sarah Wandschneider mit der Warze am Ringfinger aus Kastenholz. Sie kannten sich vor dem Lager nicht, glichen sich aber wie Schwestern. Im Lager hießen sie nur die zwei Zirris. Irma Pfeifer kam aus der Kleinstadt Deta, die taube Mitzi, also Annamarie Berg, aus Mediasch. Der Advokat Paul Gast und seine Frau Heidrun Gast waren aus Oberwischau. Der Trommler Kowatsch Anton kam aus dem Banater Bergland, aus dem Städtchen Karansebesch. Katharina Seidel, die wir Planton-Kati nannten, kam aus Bakowa. Sie war schwachsinnig und wusste all die fünf Jahre nicht, wo sie ist. Der am Steinkohleschnaps gestorbene Maschinist Peter Schiel war aus Bogarosch. Die singende Loni, Ilona Mich aus Lugosch. Der Schneider Herr Reusch aus Guttenbrunn. Usw.
Wir waren alle Deutsche und wurden von zu Hause abgeholt. Außer Corina Marcu, die mit Flaschenlocken, Pelzmantel, Lackschuhen und einer Katzenbrosche am Samtkleid ins Lager kam. Sie war Rumänin und wurde in Buzǎu nachts auf dem Bahnhof von den Wachsoldaten unseres Transports eingefangen und in den Viehwaggon gesteckt. Vermutlich musste sie die Lücke auf der Liste füllen, eine Tote ersetzen, die auf der Fahrt gestorben war. Sie erfror im dritten Jahr beim Schneeschaufeln an einer Bahnstrecke. Und David Lommer, der Zither-Lommer genannt wurde, weil er Zither spielte, war Jude. Weil man ihm sein Schneideratelier enteignet hatte, fuhr er als Schneidermeister durchs Land und ging in die besseren Häuser. Er wusste nicht, wieso er als Deutscher auf die Liste der Russen kam. Zuhause war er in der Bukowina, in Dorohoi. Seine Eltern und die Frau mit den vier Kindern waren vor den Faschisten geflohen. Wohin wusste er nicht, und sie wussten auch schon vor seiner Deportation nicht, wo er war. Er nähte in Großpold für eine Offiziersfrau ein Wollstoffkostüm, als er abgeholt wurde.
Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen. Auch der Zither-Lommer. Er musste dreieinhalb Jahre im Lager zubringen. Eines Morgens hielt ein schwarzes Auto vor der Baustelle. Zwei Fremde mit edlen Karakulmützen stiegen aus und sprachen mit dem Vorarbeiter. Dann nahmen sie den Zither-Lommer im Auto mit. Ab dem Tag blieb in der Baracke das Bett vom Zither-Lommer leer.
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