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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Seinen Koffer und seine Zither haben Bea Zakel und Tur Prikulitsch wahrscheinlich auf dem Basar verkauft.
    Bea Zakel sagte, die Karakulmützen waren hochrangigeParteileute aus Kiew. Sie hätten den Zither-Lommer nach Odessa gebracht und dort eingeschifft nach Rumänien.
    Als Landsmann konnte der Rasierer Oswald Enyeter sich erlauben, Tur Prikulitsch zu fragen, warum nach Odessa. Tur sagte: Der Lommer hatte hier nichts zu suchen, von dort kann er hin, wo er will. Ich sagte zum Rasierer, statt zu Tur: Wohin soll er wollen, bei dem zu Hause ist niemand mehr. Tur Prikulitsch hielt gerade den Atem an, um nicht zu wackeln. Der Rasierer stutzte ihm die Nasenhaare mit einer rostigen Schere. Als auch das zweite Nasenloch fertig war, bürstete er ihm die Haarschnipsel wie Ameisen vom Kinn und drehte sich halb vom Spiegel weg, damit Prikulitsch nicht sieht, dass er mit dem Auge zwinkert. Bist du zufrieden, fragte er. Tur sagte: Mit meiner Nase schon.
    Im Hof draußen hatte der Regen aufgehört. Auf der Einfahrt schepperte der Brotkarren durch die Pfützen. Jeden Tag zog derselbe Mann den Karren mit dem Kastenbrot durchs Lagertor in den Hinterhof der Kantine. Das Brot war immer mit einem weißen Leintuch zugedeckt, wie ein Leichenhaufen. Ich fragte, welchen Dienstgrad der Brotmann hat. Der Rasierer sagte, gar keinen, die Uniform habe er geerbt oder gestohlen. Mit dem vielen Brot und dem vielen Hunger brauche er die Uniform, um sich Respekt zu verschaffen.
    Der Karren hatte zwei hohe Holzräder und zwei lange Holzarme. Er glich den großen Schubkarren, mit denen zu Hause die Scherenschleifer durch die Straßen fuhren, von einem Ort zum anderen, den ganzen Sommer lang. Der Brotmann hinkte, wenn er einen Schritt vom Karren wegging. Sein eines Bein war ein Holzfuß aus zusammengenagelten Schaufelstielen, sagte der Rasierer. Ich beneideteden Brotmann, der hatte zwar ein Bein zu wenig, aber Brot hatte er viel. Auch der Rasierer schaute dem Brotkarren nach. Er kannte nur den Halbhunger, wahrscheinlich machte er mit dem Brotmann hie und da Geschäfte. Auch Tur Prikulitsch, der einen satten Magen hatte, schaute dem Brotmann nach, vielleicht um ihn zu kontrollieren oder nur abwesend. Ich wusste nicht weshalb, doch mir schien, dass der Rasierer Tur Prikulitsch vom Brotkarren ablenken wollte. Anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb er, gerade als ich mich auf den Hocker setzte, sagte: Was sind wir doch für eine interlope Gesellschaft hier im Lager. Alles Leute von überall her, wie im Hotel, in dem man eine Zeitlang wohnt.
    Es war in der Baustellenzeit. Was hatten Ausdrücke wie INTERLOPE GESELLSCHAFT, HOTEL und ZEITLANG mit uns zu tun. Der Rasierer war kein Komplize der Lagerleitung, aber privilegiert. Er durfte in seiner Rasierstube wohnen und schlafen. Wir mit unseren Baracken und dem Zement hatten keinen Witz mehr im Schädel. Am Tag hatte Oswald Enyeter die Rasierstube zwar nicht für sich, wir kamen und gingen. Er musste jedes Elend frisieren und rasieren. Manche Männer weinten, wenn sie sich im Spiegel sahen. Monat um Monat musste er sehen, wie wir immer verwahrloster durch seine Tür kamen. All die fünf Jahre wusste er genau, wer noch kam, aber schon halb aus Wachs war. Und wer nicht mehr kam, weil er arbeitsmüd und heimwehkrank war oder schon tot. Das alles hätte ich nicht aushalten wollen. Andererseits musste Oswald Enyeter aber keine Brigade aushalten und keinen verdammten Zementtag. Und keine Nachtschicht im Keller. Er wurde von unserer Verwahrlosung belagert, aber nichtmaßlos betrogen vom Zement. Er musste uns trösten, wir nutzten ihn aus, weil wir nicht anders konnten. Weil wir hungerblind waren und heimwehkrank, ausgestiegen aus der Zeit und aus uns selbst und fertig mit der Welt. Also die Welt mit uns.
    Damals sprang ich vom Stuhl auf und schrie, dass ich im Unterschied zu ihm nur Zementsäcke habe, kein Hotel. Und dann trat ich gegen den Hocker, dass er fast kippte, und sagte: Sie gehören hier zu den Hotelbesitzern, Herr Enyeter, ich nicht.
    Leo setz dich hin, sagte er, ich dachte, wir duzen uns. Du irrst dich, der Besitzer heißt Tur Prikulitsch. Und Tur streckte die rosarote Zungenspitze aus dem Mundwinkel und nickte. Er war so dumm und fühlte sich geschmeichelt, kämmte sich im Spiegel, blies durch den Kamm. Er legte den Kamm auf den Tisch und die Schere auf den Kamm, dann die Schere neben den Kamm und den Kamm auf die Schere. Dann ging er. Als Tur Prikulitsch draußen war, sagte Oswald Enyeter: Hast du

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