Atemschaukel
das gesehen, er ist der Besitzer, er hält uns in Schach, nicht ich. Setz dich wieder hin, bei den Zementsäcken kannst du schweigen, ich muss mit jedem etwas reden. Sei doch froh, dass du noch weißt, was das ist, ein Hotel. Bei den meisten ist doch alles, was sie noch wissen, längst etwas anderes. Alles, außer dem Lager, sagte ich.
Ich setzte mich an dem Tag nicht mehr auf den Hocker. Ich blieb hart und ging weg. Damals hätte ich es nicht zugegeben, ich war genauso eitel wie Tur Prikulitsch. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass Enyeter, der es nicht nötig hatte, versöhnlich wurde. Je mehr er mich bat, desto entschiedener ging ich unrasiert weg. Mit Stoppeln im Gesichtwar der Zement noch zudringlicher. Erst vier Tage später ging ich wieder zu ihm und setzte mich auf den Hocker, als wäre nichts gewesen. Ich war so müde von der Baustelle, sein Hotel war mir egal. Auch der Rasierer erwähnte es nicht mehr.
Wochen später, als der Brotmann den leeren Karren zum Lagertor hinauszog, fiel mir das HOTEL wieder ein. Da gefiel es mir. Ich brauchte es gegen den Überdruss. Ich kam vom Zementausladen aus der Nachtschicht im Trott wie ein Kalb durch die Morgenluft. In der Baracke schliefen noch drei. Ich legte mich so dreckig, wie ich war, aufs Bett und sagte mir: Niemand braucht einen Schlüssel hier im Hotel. Keine Rezeption, offenes Wohnen, Zustände wie in Schweden. Meine Baracke und mein Koffer sind immer offen. Meine Wertsachen sind Zucker und Salz. Unterm Kissen liegt mein getrocknetes, vom Mund abgespartes Brot. Es ist ein Vermögen und bewacht sich selbst. Ich bin ein Kalb in Schweden, und ein Kalb tut jedes Mal dasselbe, wenn es in sein Hotelzimmer kommt – es schaut zuallererst unter sein Kissen, ob das Brot da ist.
Ich war den halben Sommer beim Zement und ein Kalb in Schweden, ich kam aus der Tag- oder Nachtschicht und spielte im Kopf Hotel. Manche Tage musste ich in mich hineinlachen. Manche Tage brach das HOTEL krass in sich, also in mir, zusammen, und mir kamen die Tränen. Ich wollte mich aufrichten, aber ich kannte mich nicht mehr.
Das verfluchte Wort HOTEL . Wir wohnten alle fünf Jahre ganz dicht daneben – im APPELL.
Holz und Watte
Es gab zweierlei Schuhe: Die Gummigaloschen waren ein Luxus. Die Holzschuhe eine Katastrophe, nur die Sohle war aus Holz, ein zweifingerdickes Brettchen. Das Oberteil war graues Sacktuch mit einem schmalen Lederstreifen rundherum. Am Lederstreifen entlang war das Tuch mit Nägeln an die Sohle genagelt. Weil das Sacktuch für die Nägel zu schwach war, zerriss es immer, zuerst an den Fersen. Die Holzschuhe waren hohe Schuhe, sie hatten Ösen zum Schnüren, aber Schnürsenkel gab es keine. Man fädelte dünnen Draht ein, er wurde an den Enden zugedreht, um sich selbst gezwirbelt. Auch an den Ösen war das Sacktuch nach wenigen Tagen zerfetzt.
In Holzschuhen kann man die Zehen nicht biegen. Man hebt die Füße nicht vom Boden, man schiebt die Beine. Vom Schlurfen werden sie kniesteif. Es war eine Erleichterung, wenn die Holzsohlen an den Fersen abrissen, die Zehen wurden etwas freier, und man konnte das Knie besser biegen.
Bei den Holzschuhen gab es nicht rechts und links und nur drei Größen, winzige, riesige und ganz selten mittlere. Man suchte sich in der Wäschekammer aus dem Haufen Holz mit Segeltuch zwei gleichgroße Schuhe aus. Bea Zakel war die Geliebte von Tur Prikulitsch und die Herrin über unsere Kleidung. Manchen half sie beim Wühlen, um zwei gutgenagelte Stücke zu finden. Bei anderen schob sie nur, ohne sich zu bücken, ihren Stuhl näher zum Schuhhaufenund lauerte, dass nichts gestohlen wird. Sie selbst trug gute Halbschuhe aus Leder, und wenn es eisig kalt war, Filzstiefel. Wenn sie durch den Dreck laufen musste, zog sie Gummigaloschen drüber.
Nach dem Plan der Lagerleitung sollten die Holzschuhe ein halbes Jahr halten. Aber nach drei, vier Tagen war das Tuch an den Fersen abgerissen. Jeder versuchte, sich durch Tauschgeschäfte zusätzliche Gummigaloschen zu organisieren. Die waren biegsam und leicht, eine Handbreit größer als der Fuß. Man hatte Platz genug für mehrere Fußlappen übereinander, die wir statt Strümpfen trugen. Damit sich die Füße beim Gehen nicht aus den Galoschen herausheben, band man sie unter der Sohle mit einem Stück Draht an den Fuß. Oben am Rist wurde er zugedreht. Wo der Drahtknoten auf dem Rist saß, war der neuralgische Punkt, an der Stelle waren die Füße immer wundgerieben. Und an der Wunde kriegte man die
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