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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Nähschachtel zurück. Und der Blaupunkt wanderte ins Schlafzimmer zu meinen Eltern. Durch drei Wände hörte ich in aller Früh das Wecksignal von Radio München. Die Sendung hieß Morgenturnen, und der Fußboden begann rhythmisch zu vibrieren. Die Eltern turnten dirigiert vom Turnlehrer im Blaupunkt. Und mich schickten die Eltern, weil ich zu pummelig war und soldatischer werden sollte, einmal pro Woche zum privaten Turnunterricht, dem Krüppelturnen.
    Gestern hielt ein speziell angereister Offizier mit grüner Kappe, groß wie ein Kuchenteller, eine Ansprache auf dem Appellplatz. Es war eine Rede über den Frieden und die FUSSKULTUR. Und Tur Prikulitsch durfte ihn nicht unterbrechen, stand daneben, devot wie ein Ministrant und fasste nachher den Inhalt zusammen: Die Fußkultur stärkt unsere Herzen. Und in unseren Herzen schlägt das Herz der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die fusische Kultur stählt die Kraft der Arbeiterklasse. Durch die fusische Kultur erblüht die Sowjetunion in der Kraft der kommunistischen Partei und im Glück des Volkes und des Friedens.
    Der Akkordeonspieler Konrad Fonn, ein Landsmann von Tur Prikulitsch erklärte mir, dass ein Y im Russischen einU ist. Dass es um die PHYSISCHE Kultur und ihre Kraft geht, um die Turnkultur auf kyrillisch. Und dass der Offizier das Wort falsch aufgeschnappt haben muss und Tur sich nicht traut, ihn zu korrigieren.
    Die FUSSKULTUR kannte ich vom Krüppelturnen und aus der Schule den völkischen Donnerstag. Als Gymnasiasten mussten wir jeden Donnerstag zum Heimabend antreten. Auf dem Schulhof wurden wir gedrillt, hinlegen, aufstehen, auf den Zaun klettern, in die Hocke, hinlegen, Armbeugen, aufstehen. Links, rechts, marsch, Liedersingen. Wotan, Wikinger, germanisches Balladengut. Samstags oder sonntags marschierten wir in Kolonnen aus der Stadt hinaus. Im Gesträuch der Hügel trainierten wir Tarnung mit Ästen auf dem Kopf, Orientierung mit Käuzchen- und Hundestimme und Kriegsspiele mit roten und blauen Wollfäden am Arm. Wer dem Feind den Faden abreißen konnte, hatte ihn getötet. Wer die meisten Fäden hatte, wurde mit einer blutroten Hagebutte als Held dekoriert.
    Einmal bin ich einfach nicht zum völkischen Donnerstag gegangen. Einfach war es nicht. In der Nacht davor gab es ein großes Erdbeben. In Bukarest war ein Mietshaus eingestürzt und hatte viele unter sich begraben. Bei uns in der Stadt waren nur Schornsteine abgestürzt und bei uns zu Hause nur zwei Ofenrohre auf den Fußboden gefallen. Das nahm ich mir zum Vorwand. Der Turnlehrer fragte nichts, doch bei mir im Kopf hatte das Krüppelturnen bereits gewirkt. Ich sah in diesem Ungehorsam den Beweis, dass ich wirklich ein Krüppel bin.
    Mein Vater fotografierte in diesen aufregenden Zeiten sächsische Trachtenmädchen und Turnerinnen. Er hatte sich dafür sogar eine Leica gekauft. Und er wurde Sonntagsjäger.Montags sah ich ihm zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen.
    Es war leicht, nichts zu wissen. Es kamen Flüchtlinge aus Bessarabien und Transnistrien, sie wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es kamen deutsche Soldaten aus dem Reich, wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es gingen Nachbarn und Verwandte und Lehrer in den Krieg zu den rumänischen Faschisten oder zum Hitler. Und es kamen manche in den Fronturlaub und andere nicht. Und es gab Scharfmacher, die sich vor der Front drückten, aber zu Hause hetzten und in Uniform auf den Tanzball und ins Kaffeehaus gingen.
    Auch der Naturkundelehrer trug Stiefel und Uniform, wenn er uns den goldenen Frauenschuh als Moosgewächs erklärte. Und das Edelweiß. Das Edelweiß war mehr als eine Pflanze, es war eine Mode. Alle trugen Abzeichen und Anstecker mit Flugzeug- und Panzertypen, Waffengattungen, Edelweiß und Enzian als Talisman. Ich sammelte Abzeichen, tauschte sie und lernte die Rangordnungen auswendig. Die liebsten waren mir der Unter- und Obergefreite. Ich glaubte,

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