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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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gefährlich, sie verzerrten die Umrisse der Steine und verschoben das Maß in den Reihen. Der Stein auf dem Brettchen wusste selbst nicht mehr, wie er aussieht. Man wurde unsicher, man durfte seine Kanten nicht mit den Kanten der Schatten verwechseln. Auch von den Abraumhalden drüben kam ein trügerisches Durcheinanderzucken. Sie glühten an unzähligen Stellen und machten gelbe Augen wie nachtaktive Tiere, die ihr eigenes Licht erzeugen und ihre Schlaflosigkeit beleuchten oder verbrennen.Die Glutaugen der Abraumhalden rochen scharf nach Schwefel.
    Gegen Morgen wurde es kühl, ein Himmel aus Milchglas. Die Füße wurden leichter, wenigstens im Kopf, denn der Schichtwechsel war nah und man wollte vergessen, wie müde man ist. Auch der Scheinwerfer war müde, vom Tageslicht verhangen und fahl. Über unseren unwirklichen Heldenfriedhof legte sich die blaue Luft, auf alle Reihen gleich, über alle Steine. Eine stille Gerechtigkeit breitete sich aus, die einzige, die es hier gab.
    Der Schlackoblock hatte es gut, unsere Toten hatten weder Reihen noch Steine. Daran durfte man nicht denken, sonst hätte man die nächsten Tage oder Nächte nicht tänzeln und balancieren können. Wenn man ein wenig daran dachte, gab es viel Ausschuss und viel Prügel auf den Rücken.

Der gutgläubige und
der skeptische Flacon
    Es war die Hautundknochenzeit, die Ewigkeit der Krautsuppe. Kapusta am Morgen beim Aufstehen, Kapusta am Abend nach dem Appell. KAPUSTA ist Kraut auf russisch, und russische Krautsuppe heißt, dass oft überhaupt kein Kraut drin ist. Kapusta ist ohne das Russische und ohne Suppe ein Wort aus zwei Dingen, die nichts gemeinsam haben, außer diesem Wort. CAP ist der rumänische Kopf, PUSTA ist die ungarische Tiefebene. Und man denkt sich das auf deutsch, und das Lager ist russisch wie die Krautsuppe. Mit so unsinnigem Zeug will man schlau sein. Aber das zerlegte Wort KAPUSTA taugt nicht zum Hungerwort. Hungerwörter sind eine Landkarte, statt Ländernamen sagt man sich die Namen vom Essen in den Kopf. Hochzeitssuppe, Faschiertes, Rippchen, Eisbein, Hasenbraten, Leberknödel, Rehkeule, Saurer Hase usw.
    Jedes Hungerwort ist ein Esswort, man hat das Bild des Essens vor Augen und den Geschmack am Gaumen. Hungerwörter oder Esswörter füttern die Phantasie. Sie essen sich selbst, und es schmeckt ihnen. Man wird nicht satt, ist aber wenigstens beim Essen dabei. Jeder chronisch Hungrige hat seine eigenen Präferenzen, seltene, häufige und ständige Esswörter. Jedem schmeckt ein anderes Wort am besten. So wie Kapusta taugte auch das Meldekraut nicht als Esswort, weil es wirklich gegessen wurde. Werden musste.
    Ich glaube, im Hunger sind Blindheit und Sehen dasselbe, der blinde Hunger sieht das Essen am besten. Es gibt stumme und laute Hungerwörter, so wie es am Hunger selbst das Heimliche und das Öffentliche gibt. Hungerwörter, also Esswörter, beherrschen die Gespräche, und man bleibt doch allein. Jeder isst seine Wörter selbst. Die anderen, die mitessen, tun es auch für sich selbst. Die Anteilnahme am Hunger der anderen ist null, mithungern kann man nicht.
    Als Grundessen war die Krautsuppe der Grund, am Körper das Fleisch und im Kopf den Verstand zu verlieren. Der Hungerengel lief hysterisch herum. Er verlor jedes Maß, wuchs an einem Tag so viel, wie kein Gras in einem ganzen Sommer und kein Schnee in einem ganzen Winter. Vielleicht so viel wie ein hoher spitzer Baum in seinem ganzen Leben wächst. Mir scheint, dass sich der Hungerengel nicht nur vergrößerte, sondern auch vermehrte. Er besorgte jedem seine eigene, persönliche Qual, obwohl wir uns alle glichen. Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich stillgestellt. Man sagt zwar weiter DER oder DIE, wie man auch der Kamm oder die Baracke sagt. Und so wie diese sind auch Halbverhungerte nicht männlich oder weiblich, sondern objektiv neutral wie Objekte – wahrscheinlich sächlich.
    Egal wo ich war, in meinem Bettgestell, zwischen den Baracken, in der Tag- oder Nachtschicht auf der Jama oder mit Kobelian in der Steppe oder am Kühlturm oder nach der Schicht in der Banja oder beim Hausieren, alles, was ich tat, hatte Hunger. Jeder Gegenstand glich in Länge, Breite, Höhe und Farbe dem Ausmaß meines Hungers. Zwischen der Himmeldecke oben und dem Staub der Erderoch jeder Ort nach einem anderen Essen. Der Lagerkorso roch nach Karamell, der Lagereingang nach

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