Atemschaukel
frischgebackenem Brot, das Überqueren der Straße vom Lager zur Fabrik nach warmen Aprikosen, der Holzzaun der Fabrik nach kandierten Nüssen, der Fabrikeingang nach Rührei, die Jama nach gedünstetem Paprika, die Schlacke der Abraumhalden nach Tomatensuppe, der Kühlturm nach gebratenen Auberginen, das Labyrinth der dampfenden Rohre nach Vanillestrudel. Die Teerklumpen im Unkraut rochen nach Quittenkompott und die Koksbatterien nach Zuckermelonen. Es war Zauber und Qual. Sogar der Wind fütterte den Hunger, er webte sichtbares Essen, überhaupt nicht abstrakt.
Seit wir als Knochenmännlein und Knochenweiblein füreinander geschlechtslos waren, paarte sich der Hungerengel mit jedem, er betrog auch das Fleisch, das er uns bereits gestohlen hatte, und schleppte immer mehr Läuse und Wanzen in unsere Betten. Die Hautundknochenzeit war die Zeit der wöchentlichen Entlausungsparaden im Lagerhof nach der Arbeit. Alle, aber auch alle Gegenstände mussten hinaus zum Entlausen – die Koffer, die Kleider, die Bettgestelle und wir.
Es war der dritte Sommer, die Akazien blühten, der Abendwind roch nach warmem Milchkaffee. Ich hatte alles draußen hingestellt. Dann kam Tur Prikulitsch mit dem grünzähnigen Towarischtsch Schischtwanjonow. Er trug ein frischgeschältes Weidenstöckchen, doppelt so lang wie eine Flöte, biegsam fürs Prügeln war es und am unteren Ende angespitzt fürs Wühlen. Angewidert von unserem Elend spießte er die Koffersachen auf sein Stöckchen und schleuderte sie auf den Boden.
Ich hatte mich, so gut es ging, in die Mitte der Entlausungsparade gestellt, weil die Durchsuchungen zu Anfang und gegen Ende unerbittlich waren. Doch diesmal bekam Schischtwanjonow in der Mitte der Parade Lust auf Gründlichkeit. Sein Stöckchen bohrte in meinem Grammophonkoffer und stieß unter den Kleidern auf mein Necessaire. Da legte er das Stöckchen aus der Hand, öffnete das Necessaire und entdeckte meine geheime Krautsuppe.
Seit drei Wochen hatte ich die Krautsuppe in den beiden schönen Flacons, die ich nicht wegwerfen konnte, nur weil sie leer waren. Weil sie leer waren, füllte ich sie mit Krautsuppe. Der eine Flacon war aus geriffeltem Glas, rundbauchig, mit Schraubverschluss, der andere war flachbauchig mit breiterem Hals, für den ich sogar einen passenden Holzstopfen schnitzte. Damit die Krautsuppe nicht verdirbt, versiegelte ich sie luftdicht wie zu Hause das Dunstobst. Ich träufelte Stearin um den Stopfen, die Trudi Pelikan hatte mir aus der Krankenbaracke eine Kerze geliehen.
Schto eto, fragte Schischtwanjonow.
Krautsuppe.
Wozu.
Er schüttelte die Flacons, dass die Suppe schäumte.
Pamjat, sagte ich.
Andenken, das hatte ich von Kobelian gelernt, ist bei den Russen ein gutes Wort, darum habe ich es gesagt. Doch Schischtwanjonow hat sich wahrscheinlich gefragt, für wen ich dieses Andenken brauche. Wer ist so dumm, dass er Krautsuppe in Flacons braucht, um sich hier, wo es zweimal täglich Krautsuppe gibt, an Krautsuppe zu erinnern.
Für zu Hause, fragte er.
Ich nickte. Das war das Schlimmste, dass ich Krautsuppein Flacons mit nach Hause nehmen wollte. Prügel hätten mir nichts ausgemacht, aber er war erst in der Mitte seiner Parade und hielt sich nicht mit Prügeln auf. Er konfiszierte meine Flacons und bestellte mich zu sich.
Am nächsten Morgen führte mich Tur Prikulitsch aus der Kantine in die Offiziersstube. Er ging wie ein Getriebener über den Korso und ich wie ein Verurteilter hinter ihm her. Ich fragte ihn, was ich sagen soll. Ohne sich umzudrehen, machte er eine wegwerfende Geste wie, da misch ich mich nicht ein. Schischtwanjonow brüllte. Tur hätte sich das Übersetzen sparen können, ich kannte das alles schon auswendig. Dass ich ein Faschist, Spion, Saboteur und Schädling bin, dass ich keine Kultur habe und mit gestohlener Krautsuppe das Lager, die Sowjetmacht und das Sowjetvolk verrate.
Im Lager war die Krautsuppe dünn, aber in den Flacons, da sie so einen engen Hals hatten, war sie leer. Die paar Krautfetzen in den Flacons waren für Schischtwanjonow eine klare Denunziation. Meine Lage war prekär. Aber dann spreizte Tur seinen kleinen Finger und hatte eine Idee: Medizin. Medizin war bei den Russen nur ein halbgutes Wort. Tur merkte das rechtzeitig, drehte auf seiner Stirn den Zeigefinger, als wolle er ein Loch bohren, und sagte maliziös: Obskurantjism.
Das leuchtete ein. Ich war doch erst drei Jahre im Lager und noch nicht umerzogen, ich glaubte noch an Zaubertränke
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