Atemschaukel
ziviler Welt roch sie und machte mich übermütig. Ich stellte mir vor, ich gehe nicht im Watteanzug aus dem Keller in die Baracke, sondern feingemacht mit Borsalino, Kamelhaarmantel und weinrotem Seidenschal in Bukarest oder in Wien ins Kaffeehaus und setze mich dort an ein Marmortischchen. So freilebig war die kalte Schlacke, sie schenkte einem den Selbstbetrug, durch den man sich ins Leben zurückstehlen konnte. Besoffen vom Gift, konnte man sich mit der kalten Schlacke glücklich machen, todsicher glücklich.
Nicht umsonst erwartete Tur Prikulitsch, dass ich mich beklage. Nur deshalb fragte er alle paar Tage in der Rasierstube:
Und, wie ist es bei euch im Keller.
Wie geht es im Keller.
Was macht der Keller.
Klappt es im Keller.
Oder nur: Und im Keller.
Und weil ich ihm den Schneid abkaufen wollte, blieb ich immer bei derselben Antwort: Jede Schicht ist ein Kunstwerk.
Wenn er nur den kleinsten Schimmer gehabt hätte von der Mischung aus Kohlegasen und Hunger, hätte er fragen müssen, wo ich mich herumtreibe im Keller. Und ich hätte sagen können, bei der Flugasche. Denn auch die Flugasche ist eine Art kalte Schlacke, treibt sich überall herum und überzieht den ganzen Keller mit Pelz. Auch mit der Flugasche kann man sich glücklich machen. Sie hat kein Gift und gaukelt. Sie ist mausgrau, samtig und riecht nicht, besteht aus Plättchen, winzigkleinen Schuppen. Sie wuselt ständig und hängt sich wie Rauhreifkristalle an alles. Jede Oberfläche verpelzt. Im Licht macht die Flugasche aus dem Drahtnetz der Glühbirne einen Zirkuskäfig mit Läusen, Wanzen, Flöhen und Termiten. Die Termiten haben Hochzeitsflügel, hab ich in der Schule gelernt. Ich habe sogar gelernt, die Termiten leben in Lagern. Sie haben einen König, eine Königin und Soldaten. Und die Soldaten haben große Köpfe. Es gibt Kiefersoldaten, Nasensoldaten und Drüsensoldaten. Und alle werden von den Arbeitern gefüttert. Und die Königin ist dreißig mal größer als die Arbeiter. Ich glaube, das ist auch der Unterschied zwischen dem Hungerengel und mir oder Bea Zakel und mir. Oder Tur Prikulitsch und mir.
In Verbindung mit Wasser fließt nicht das Wasser, sonderndie Flugasche, indem sie Wasser trinkt. Sie bläht sich auf zu Tropfsteinservicen und noch viel größer zu Betonkindern, die graue Äpfel essen. In Verbindung mit Wasser kann die Flugasche zaubern.
Ohne Licht und Wasser sitzt sie tot herum. An den Kellerwänden wie echter Pelz, auf der Wattemütze wie Kunstpelz, in den Nasenlöchern wie Gummistopfen. Das Gesicht von Albert Gion, so schwarz wie der Keller, sieht man nicht, nur sein Augenweiß schwimmt durch die Luft und seine Zähne. Bei Albert Gion weiß ich nie, ob er nur verschlossen oder traurig ist. Wenn ich ihn frage, sagt er: Darüber denke ich nicht nach. Wir sind zwei Kellerasseln, das meine ich ernst.
Nach Schichtschluss gehen wir duschen in die Banja neben dem Fabrikstor. Kopf, Hals, Hände werden dreimal eingeseift, aber die Flugasche bleibt grau und die kalte Schlacke violett. Die Kellerfarben waren in die Haut gefressen. Mich störte es nicht, ich war sogar ein wenig stolz, es waren ja auch die Farben des Selbstbetrugs.
Bea Zakel bedauerte mich, überlegte eine Weile, wie sie das schonend formulieren könnte, wusste aber, dass es eine Kränkung war, als sie sagte: Du bist wie aus einem Stummfilm, du gleichst dem Valentino.
Sie hatte sich die Haare frisch gewaschen, ihr Seidenzopf war glatt geflochten und noch feucht. Ihre Wangen waren gut genährt und röteten sich wie Erdbeeren.
Als Kind lief ich, während die Mutter und die Fini-Tante Kaffee tranken, durch den Garten. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben eine dicke reife Erdbeere und rief: Kommt mal her, hier brennt ein Frosch und leuchtet.
Ein Stückchen glühend heißer Kellerschlacke habe ich ausdem Lager nach Hause mitgebracht, am rechten Schienbein außen. Es ist in mir ausgekühlt und hat sich in kalte Schlacke verwandelt. Es schimmert durch die Haut wie eine Tätowierung.
Der weinrote Seidenschal
Mein Kellerkompagnon Franz Gion hatte auf dem Heimweg von der Nachtschicht gesagt: Jetzt, wo es warm wird, kann man, wenn man nichts zu Essen hat, den Hunger wenigstens in der Sonne wärmen. Ich hatte nichts zu essen und ging in den Lagerhof, meinen Hunger wärmen. Das Gras war noch braun, niedergedrückt und vom Frost verbrannt. Die Märzsonne hatte bleiche Fransen. Überm Russendorf war der Himmel aus gewelltem Wasser, und die Sonne ließ sich treiben.
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