Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
Vom Netzwerk:
eigenen Gewicht und trägt gewellte Halme.
    Der Albert Gion und ich haben Nachtschicht. Am Abend gehe ich in den Keller, an all den Rohren vorbei, einige verpacktin Glaswolle, andere nackt und verrostet. Manche in Kniehöhe, andere überm Kopf. Ich müsste wenigstens einmal an einem Rohr entlanggehen, in beide Richtungen. Wenigstens einmal müsste ich von einem Rohr wissen, woher es kommt und wohin es führt. Dann wüsste ich noch immer nicht, was es transportiert, ob es überhaupt etwas transportiert. Ich müsste wenigstens einmal an einem Rohr entlanggehen, aus dem weißer Dampf kommt, weil das wenigstens weißen Dampf transportiert, Naphtalindampf. Es müsste jemand geben, der mir wenigstens einmal das ganze Kokswerk erklärt. Einerseits wüsste ich gerne, was hier passiert. Andererseits weiß ich nicht, ob die technischen Abläufe, die ja auch ihre Wörter haben, meine Fluchtwörter nicht stören würden. Ob ich mir die Namen all der Skelette in den Schneisen und Lichtungen überhaupt merken könnte.
    Aus den Ventilen zischt weißer Dampf, unterirdisch vibriert es. Drüben bimmelt die Viertelstundenglocke der Einserbatterie und bald bimmelt die Zweier. Die Exhaustoren zeigen ihre Eisenrippen aus Treppen und Leitern. Und hinter den Exhaustoren wandert der Mond in die Steppe. In solchen Nächten sehe ich die Kleinstadtgiebel von zu Hause, die Lügenbrücke, die Fingerlingstiege und daneben die Pfandleihanstalt SCHATZKÄSTLEIN. Und den Muspilli, den Chemielehrer, sehe ich auch.
    Die Ventile im Röhrendickicht sind NAPHTALINBRUNNEN, sie tropfen. Nachts sieht man, wie weiß die Hähne der Ventile sind. Anders als Schnee, fließend weiß. Und die Türme sind anders schwarz als die Nacht, stachlig schwarz. Und der Mond hat sein Leben hier und noch eines zu Hause über den Kleinstadtgiebeln. Und hier wie dort hat er einen Hof, in dem die ganze Nacht das Licht brennt undsein uraltes Inventar beleuchtet – einen Plüschsessel und eine Nähmaschine. Der Plüschsessel riecht nach Zitronenblüten, die Nähmaschine nach Möbelwachs.
    Meine ganze Bewunderung hatte der Parabolturm, die MATRONE, der grandiose Kühlturm, sicher 100 Meter hoch. Sein schwarz imprägniertes Korsett roch nach Tannenharz. Seine weiße, immergleiche Kühlturmwolke war aus Wasserdampf. Wasserdampf riecht nicht, belebt jedoch die Nasenschleimhäute und verstärkte all die vorhandenen Gerüche und das Erfinden der Fluchtwörter. So gut täuschen wie die Matrone konnte nur noch der Hungerengel.
    Neben dem Parabolturm lag ein Berg Kunstdünger, Vorkriegskunstdünger. Kunstdünger, hatte Kobelian gesagt, ist auch ein Kohlederivat. DERIVAT klang tröstlich. Von weitem glänzte der Vorkriegskunstdünger wie Glyzerinseife im Cellophan. Ich sah mich als Elfjährigen im sommerlichen Bukarest, 1938, in der Calea Victoriei zum ersten Mal in einem modernen Kaufhaus, in der straßenlangen Bonbonabteilung. Süßer Atem in der Nase, Cellophan knistert an den Fingern. Es überläuft mich kalt und überschwemmt mich heiß von außen und von innen. Ich hatte meine erste Erektion. Das Kaufhaus hieß auch noch Sora  – Schwester.
    Der Vorkriegsdünger war in Schichten zusammengebacken, transparent gelb, senfgrün und grau. Von ganz nah roch er bitter wie Alaun. Dem Alaunstein musste ich vertrauen, er war doch blutstillend. Manche Pflanzen wuchsen hier und aßen nur Alaun, blühten lila wie gestilltes Blut und hatten später braunlackierte Beeren, wie das getrocknete Blut der Erdhunde im Steppengras.
    Zu den chemischen Substanzen gehört auch das Anthrazen. Es lag auf allen Wegen und fraß die Gummigaloschen.Anthrazen ist öliger Sand oder zu Sand kristallisiertes Öl. Wenn man drauftritt, wird es gleich wieder zu Öl, tintenblau, silbergrün wie zertretene Pilze. Anthrazen roch nach Kampfer.
    Und manchmal roch trotz aller Duftstraßen und Fluchtwörter die PEK-Wanne mit ihrem Steinkohleteer. Seit meiner Tageslichtvergiftung fürchtete ich sie und war froh, dass es den Keller gab.
    Es muss im Keller aber Substanzen geben, die man nicht sieht, nicht riecht und nicht schmeckt. Sie sind die hinterhältigsten. Weil man sie nicht merkt, kann ich ihnen keine Fluchtnamen geben. Sie verstecken sich vor mir und schicken die gesunde Milch vor. Einmal im Monat bekommen der Albert Gion und ich nach der Schicht gesunde Milch gegen die unsichtbaren Substanzen, damit wir langsamer vergiftet werden als Jurij, der Russe, mit dem Albert Gion vor meiner Tageslichtvergiftung im Keller war.

Weitere Kostenlose Bücher