Atemschaukel
Schneeschicht am Mund. Wenn wir aus der Schlacke herauskrochen, waren unsere Kleider löchrig von den Glutstückchen, überall hing die Watte heraus.
Vom Auf- und Abladen kenne ich die dunkelrote gemahlene Hochofenschlacke. Sie hat nichts mit der weißen Schlacke zu tun, ist aus rotbraunem Staub, der bei jedem Schaufelschwung durch die Luft geistert und sich langsam herabsenkt wie ein Faltenwurf. Da sie trocken wie der heiße Sommer und durch und durch aseptisch ist, spricht die dunkelrote Hochofenschlacke das Heimweh nicht an.
Es gibt auch die grünbraune Schlacke, festgebacken auf der wilden Wiese, im Brachland hinter der Fabrik. Sie lag wie abgeleckte Salzbrocken unterm Unkraut. Wir hatten miteinander nichts zu tun, sie ließ mich vorbeigehen und brachte mich auf keinerlei Gedanken.
Aber mein Ein und Alles, meine Jeden-Tag-Schlacke und Tag-und Nachtschichtschlacke war die Dampfkesselschlacke aus den Kohleöfen, die heiße und die kalte Kellerschlacke. Die Öfen standen in der Oberwelt, fünf hintereinander, hoch wie Etagenhäuser. Die Öfen heizten fünf Kessel, produzierten Dampf für das ganze Werk und für uns im Keller die heiße und kalte Schlacke. Und die ganze Arbeit, die heiße und die kalte Phase jeder Schicht.
Die kalte Schlacke entsteht nur durch die heiße, sie ist nur der kalte Staub der heißen Schlacke. Die kalte Schlacke muss nur einmal pro Schicht entleert werden, die heiße Schlacke jedoch ständig. Sie muss im Takt der Öfen in unzählige Wägelchen geschaufelt, den Berg hinaufgestoßen und am Schienenende des Bergs ausgekippt werden.
Die heiße Schlacke kann jeden Tag anders sein. Sie gerät je nachdem, wie die Kohlemischung ausgefallen ist. Man kann von der Gunst und von der Tücke der Mischung reden. Wenn die Kohlemischung gut ist, kommen auf demTransportrost 4 bis 5 cm dicke glühende Platten an. Sie haben ihre Wärme abgegeben, sind spröd und brechen trocken in Stücke, die locker wie geröstetes Brot aus der Klappe fallen. Der Hungerengel wundert sich, auch wenn man beim Schaufeln schwächelt, füllt sich das Wägelchen ziemlich schnell. Ist die Mischung aber schlecht, kommt die Schlacke zäh wie Lava an, weißglühend und klebrig. Sie fällt nicht von allein durch den Rost, sie staut sich zwischen den Ofenklappen. Mit der Schürstange reißt man Batzen los, die ziehen sich wie Teig. Man kriegt den Ofen nicht leer, das Wägelchen nicht voll. Es ist eine plagende, zeitraubende Arbeit.
Wenn die Mischung aber katastrophal ist, kriegt der Ofen regelrecht Durchfall. Die Durchfallschlacke wartet nicht, bis die Klappe offen ist, sie fließt schon aus der halbgeöffneten Klappe wie geschissene Maiskörner. Sie ist rot und weißglühend, aber man würde am liebsten nicht hinsehen. Sie ist gefährlich, kann einem in jedes Loch der Kleider fließen. Weil man sie nicht stoppen kann, läuft das Wägelchen über und wird unter der Schlacke begraben. Man muss die Klappe, weiß der Teufel wie, schließen, die Beine, die Galoschen und Fußlappen vor der Glutüberschwemmung hüten, die Glut mit dem Wasserschlauch löschen, das Wägelchen freischaufeln, es den Berg hochziehen und die Havariestelle säubern – und das alles auf einmal. Es ist das pure Desaster, wenn es auch noch gegen Schichtende passiert. Man verliert endlos Zeit, und die anderen vier Öfen warten nicht, sie müssten längst entleert werden. Der Takt wird rasend, die Augen schwimmen, die Hände fliegen, die Füße wackeln. Ich hasse die Durchfallschlacke heute noch.
Aber die Einmal-pro-Schicht-Schlacke, die kalte Schlacke, liebe ich. Sie ist anständig zu einem, geduldig und berechenbar. Der Albert Gion und ich brauchten einander nur für die heiße Schlacke. Die kalte Schlacke wollte jeder für sich allein haben. Die kalte Schlacke ist zahm und zutraulich, fast anlehnungsbedürftig – ein violetter Sandstaub, mit dem man ungestört allein sein kann. Sie war in der hintersten Ofenreihe des Kellers, sie hatte ihre eigenen Klappen und ein eigenes Wägelchen mit Blechbauch, ohne Gitter.
Der Hungerengel wusste, wie gern ich mit der kalten Schlacke allein war. Dass sie gar nicht kalt war, sondern lauwarm und ein bisschen nach Flieder roch oder nach behaarten Gebirgspfirsichen und späten Sommeraprikosen. Doch am meisten roch die kalte Schlacke nach Feierabend, weil in der nächsten Viertelstunde Schichtschluss und kein Desaster mehr möglich war. Sie roch nach Heimweg aus dem Keller, nach Kantinensuppe und Ausruhen. Sogar nach
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