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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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dass ich allein und unbewacht durch die Steppe gehe. Erdhunde haben feine Instinkte, sie beten für die Flucht, dachte ich. Flucht wäre jetzt möglich, aber wohin. Vielleicht wollen sie mich warnen, vermutlich bin ich längst auf der Flucht. Ich schaute mich um, ob mir jemand folgt. Ganz weit hinten kamen zwei Gestalten, sahen aus wie ein Mann mit einem Kind, sie trugen zwei kurzstielige Schaufeln, keine Gewehre. Der Himmel war wie ein blaues Netz über die Steppe gespannt und in der Ferne ohne Durchschlupf an die Erde angewachsen.
    Es hatte im Lager schon drei Fluchtversuche gegeben. Alle drei waren Karpato-Ukrainer, Tur Prikulitschs Landsleute. Die sprachen gut Russisch und wurden dennoch alle drei eingefangen und von Prügeln entstellt beim Appell vorgeführt.Und dann nie mehr gesehen, in ein Sonderlager geschickt oder ins Grab.
    Jetzt sah ich linkerhand eine Bretterbude und einen Wachposten mit Pistole am Gurt, ein magerer, junger Kerl, um einen halben Kopf kleiner als ich. Er hatte auf mich gewartet, er winkte. Ich kam gar nicht zum Stehen, er hatte es eilig, wir gingen an Krautfeldern entlang. Er kaute Sonnenblumenkerne, warf sich zwei gleichzeitig in den Mund, zuckte einmal, spuckte aus dem einen Mundwinkel die Schalen und schnappte unterdessen mit dem anderen die nächsten Kerne, und schon flogen wieder die leeren Schalen. Wir gingen so schnell, wie er schnappte. Ich dachte, vielleicht ist er stumm. Er sprach nicht, er schwitzte nicht, seine Mundakrobatik kam nicht aus dem Takt. Er ging, als ziehe der Wind ihn auf Rädern. Er schwieg und aß wie eine Schälmaschine.
    Dann zog er mich am Arm, wir blieben stehen. An die zwanzig Frauen waren auf dem Feld verstreut. Sie hatten keine Werkzeuge, sie gruben die Kartoffeln mit den Händen aus der Erde. Der Wachposten wies mir eine Reihe zu. Die Sonne stand wie ein Glutstück mitten im Himmel. Ich schaufelte mit den Händen, der Boden war hart. Die Haut platzte, in den Wunden brannte der Dreck. Wenn ich den Kopf hob, flogen Schwärme flimmernder Punkte vor meinen Augen. Im Hirn stockte das Blut. Auf dem Acker war dieser junge Kerl mit der Pistole außer Wachposten auch Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer, alles in einem. Wenn er die Frauen beim Reden erwischte, peitschte er ihnen Kartoffelkraut ins Gesicht oder stopfte ihnen faule Kartoffeln in den Mund. Und er war nicht stumm. Was er dabei schrie, verstand ich nicht. Es waren keine Kohleflüche, keine Baustellenbefehle oder Kellerworte.
    Langsam verstand ich etwas anderes, dass Tur Prikulitsch mit ihm eine Absprache hat, mich den ganzen Tag arbeiten zu lassen und erst am Abend zu erschießen, weil ich fliehen wollte. Oder mich am Abend in ein Erdloch zu stecken, in ein ganz privates, weil ich hier der einzige Mann war. Oder nicht nur an diesem Abend, sondern von heute an jeden Abend, dass ich nie mehr zurück ins Lager komme.
    Als der Abend kam, war der Kerl außer Wachposten, Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer auch Lagerkommandant. Die Frauen stellten sich zum Zählappell in die Reihe, sagten ihre Namen und die Nummer, machten die Taschen der Pufoaikas links und zeigten in jeder Hand ihre zwei Kartoffeln. Vier mittlere durften sie behalten. Wenn eine zu groß war, wurde sie umgetauscht. Ich stand als Letzter in der Reihe und zeigte mein Kopfkissen. Es war gefüllt mit 27 Kartoffeln, 7 mittlere und 20 große. Auch ich durfte 4 mittlere Kartoffeln behalten, die anderen musste ich ausleeren. Der Pistolenmann fragte, wie ich heiße. Ich sagte: Leopold Auberg. Er nahm, als hätte es etwas mit meinem Namen zu tun, eine mittlere Kartoffel und schoss sie mit dem Schuh über meine Schulter. Ich zog den Kopf ein. Die nächste schießt er nicht mit dem Fuß, die wirft er mir an den Kopf und schießt ihr im Flug hinterher mit seiner Pistole und zerfetzt sie zusammen mit meinem Hirn. Er schaute, während ich das dachte, wie ich mein Kissen in die Hosentasche stecke. Dann zog er mich am Arm aus der Reihe und zeigte, als wäre er wieder stumm, in den Abend, in die Steppe, dorthin wo ich am Morgen hergekommen war. Dort ließ er mich stehen. Und den Frauen gab er den Marschbefehl und ging hinter der Brigade in die andere Richtung. Ich stand am Feldrand, sah ihn mit den Frauenwegmarschieren und war sicher, bald lässt er seine Brigade allein und kommt zurück. Und ohne Zeugen wird es einmal knallen und heißen: Erschossen auf der Flucht.
    Die Brigade marschierte wie eine braune Schlange immer kleiner in

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