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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Damit wir länger durchhalten, kriegen wir einmal im Monat am Pförtnerhäuschen der Fabrik einen halben Liter gesunde Milch ins Blechgeschirr. Es ist eine Gabe aus einer anderen Welt. Sie schmeckt nach dem, der man hätte bleiben können, wenn man nicht beim Hungerengel wäre. Ich glaube ihr, dass sie meinen Lungen hilft. Dass jeder Schluck das Gift vertilgt wie reiner Schnee, der alle Vergleiche übertrifft.
    Alle, alle, alle.
    Und ich hoffe alle Tage, dass sie einen ganzen Monat wirkt und mich beschützt. Ich trau mich nicht und sage es doch:
    Ich hoffe, dass die frische Milch die unbekannte Schwester ist von meinem weißen Taschentuch. Und der fließende Wunsch meiner Großmutter. Ich weiß, du kommst wieder.

Wer hat das Land ausgetauscht
    Drei Nächte hintereinander hat mich derselbe Traum heimgesucht. Ich bin auf einem weißen Schwein wieder durch die Wolken nach Hause geritten. Aber aus der Luft oben hatte das Land diesmal eine andere Form. Auch am Rand war kein Meer. Und in der Mitte keinerlei Gebirge, keine Karpaten. Ein flaches Land und darin kein einziger Ort. Überall nur wilder Hafer, schon herbstgelb.
    Wer hat das Land ausgetauscht, fragte ich.
    Der Hungerengel sah mich aus dem Himmel an und sagte: Amerika.
    Und wo ist Siebenbürgen, fragte ich.
    Er sagte: In Amerika.
    Wohin sind die Leute, fragte ich.
    Er sagte nichts mehr.
    Auch in der zweiten Nacht sagte er nicht, wohin die Leute sind. Auch nicht in der dritten. Das ließ mir den ganzen nächsten Tag keine Ruhe. Der Albert Gion schickte mich nach der Schicht in die andere Männerbaracke zum Zither-Lommer. Er war fürs Traumdeuten bekannt. Er schüttelte dreizehn dicke weiße Bohnen in meiner Wattekappe, stülpte sie auf den Kofferdeckel und studierte die dreizehn Entfernungen untereinander. Dann die Wurmlöcher, Dellen und Kratzer auf jeder einzelnen Bohne. Zwischen der dritten und der neunten Bohne sei eine Straße und die Sieben sei meine Mutter, sagte er. Und die Zwei, Vier, Sechs und Acht seien Räder, aber kleine. Das Vehikel sei ein Kinderwagen.Ein weißer Kinderwagen. Ich widersprach, dass wir keinen Kinderwagen mehr zu Hause haben können, weil mein Vater ihn, gleich als ich laufen konnte, zum Einkaufswagen umgebaut hat. Der Zither-Lommer fragte, ob der umgebaute Kinderwagen weiß war, und zeigte mir an der Neun, dass im Wagen sogar ein Kopf mit einer blauen Haube liege, wahrscheinlich ein Junge. Ich setzte meine Mütze wieder auf und fragte, was er noch sieht. Er sagte: Sonst nichts. Ich hatte ein Stück gespartes Brot in der Jacke. Er verlangte nichts, weil es das erste Mal war, sagte er. Aber ich glaube, weil ich so niedergeschlagen war.
    Ich ging in meine Baracke zurück. Über Siebenbürgen und Amerika und wohin die Leute sind, hatte ich gar nichts erfahren. Auch nichts über mich selbst. Ich dachte, schade um die Bohnen, vielleicht sind sie vom vielen Träumen hier im Lager abgenutzt. Man könnte daraus eine gute Suppe kochen.
    Ich rede mir ja immer ein, dass ich wenig Gefühle habe. Wenn ich mir etwas zu Herzen nehme, ergreift es mich nur mäßig. Ich weine fast nie. Ich bin nicht stärker als die mit den nassen Augen, sondern schwächer. Sie trauen sich. Wenn man nur Haut und Knochen ist, sind Gefühle tapfer. Ich bin lieber feig. Der Unterschied ist minimal, ich nutze meine Kraft, um nicht zu weinen. Wenn ich mir mal ein Gefühl leiste, drehe ich den wunden Punkt um eine Geschichte, die trocken auf der Heimwehlosigkeit verharrt. Zum Beispiel auf dem Geruch von Maronen, also doch Heimweh. Aber dann sind es nur die k. u. k.-Maronen mit dem Geruch von frischem Leder, von denen mein Großvater mir erzählt hat. Als Matrose im Hafen von Pula hat er Maronen geschält und gegessen, bevor er mit dem Segelschiff Donau zur Weltumsegelung aufbrach. Demnach ist meine Heimwehlosigkeit das erzählte Heimweh meines Großvaters, mit dem ich das hiesige Heimweh zähme. Also, wenn ich mal ein Gefühl habe, ist es ein Geruch. Der Wortgeruch von den Maronen oder von dem Matrosen. Mit der Zeit wird jeder Wortgeruch taub wie die Bohnen vom Zither-Lommer. Man kann zum Monstrum werden, wenn man nicht mehr weint. Was mich davon abhält, falls ich es nicht längst schon bin, das ist nicht viel, höchstens der Satz: Ich weiß, du kommst wieder.
    Ich habe meinem Heimweh schon lange trockene Augen beigebracht. Und jetzt möchte ich noch, dass mein Heimweh auch herrenlos wird. Dann sieht es nicht mehr meinen Zustand hier und fragt nicht mehr nach denen von

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