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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Zuhause. Dann sind auch in meinem Kopf keine Personen mehr daheim, nur noch Gegenstände. Dann schiebe ich sie auf dem wunden Punkt hin und her, wie man die Füße schiebt bei der Paloma. Gegenstände sind klein oder groß, manche vielleicht viel zu schwer, aber sie haben ein Maß.
    Wenn mir das auch noch gelingt, ist mein Heimweh nicht mehr empfänglich für Sehnsucht. Dann ist mein Heimweh nur der Hunger nach dem Ort, wo ich früher einmal satt war.

Kartoffelmensch
    Zwei Monate habe ich im Lager zusätzlich zum Kantinenfraß Kartoffeln gegessen. Zwei Monate gekochte Kartoffeln mit strenger Einteilung, mal als Vorspeise, mal als Hauptgang, mal als Dessert.
    Die Vorspeise waren geschälte Kartoffeln mit Salz gekocht und wildem Dill bestreut. Die Schalen habe ich aufgehoben, denn am nächsten Tag gab es den Hauptgang aus gekochten Kartoffelwürfeln mit Nudeln. Die Kartoffelschalen vom Vortag zusammen mit den frischgeschälten waren meine Nudeln. Und als Dessert gab es am dritten Tag ungeschälte Kartoffeln, in Scheiben geschnitten und auf dem Feuer geröstet. Dann wurden noch geröstete Kerne vom wilden Hafer und ein bisschen Zucker draufgestreut.
    Ich hatte mir von der Trudi Pelikan ein halbes Maß Zucker und ein halbes Maß Salz geliehen. Wie wir alle dachte auch die Trudi Pelikan nach dem dritten Frieden, dass wir bald nach Hause dürfen. Den Glockenschnittmantel mit den schönen Pelzmanschetten tauschte ihr Bea Zakel auf dem Basar für fünf Maß Zucker und fünf Maß Salz. Das Geschäft mit dem Damenmantel war besser gelaufen als der Tausch meines Seidenschals. Den trug Tur Prikulitsch noch immer beim Appell. Nicht mehr ständig. In der Sommerhitze gar nicht, seit Herbst aber wieder alle paar Tage. Und ich fragte Bea Zakel alle paar Tage, wann ich von ihr oder von Tur etwas dafür bekomme.
    Nach einem Abendappell ohne Seidenschal bestellte TurPrikulitsch mich, meinen Kellerkumpan Albert Gion und den Advokaten Paul Gast in seine Dienststube. Tur stank nach Zuckerrübenschnaps. Nicht nur seine Augen, auch sein Mundwerk schien geölt. Er strich Rubriken auf der Liste durch, füllte andere mit unseren Namen und erklärte, dass der Albert Gion morgen nicht in den Keller muss und ich nicht in den Keller muss und der Advokat nicht in die Fabrik muss. In seine Rubriken hatte er gerade eben etwas anderes eingetragen. Wir waren alle miteinander verwirrt. Tur Prikulitsch begann von vorn und erklärte wieder, dass der Albert Gion morgen wie immer in den Keller muss, aber nicht mit mir, sondern mit dem Advokaten. Als ich fragte, warum nicht mit mir, ließ er die Augenlider halb herunter und sagte: Weil du morgen früh um Punkt sechs auf den Kolchos gehst. Ohne Gepäck, abends kommst du zurück. Als ich fragte, wie, sagte er: Na wie, zu Fuß. Rechter Hand kommen drei Abraumhalden, an die hältst du dich. Linkerhand kommt dann der Kolchos.
    Ich war sicher, dass es nicht bloß für einen Tag sein soll. Auf dem Kolchos starb man noch schneller, man wohnte in Erdlöchern, fünf, sechs Stufen runter, das Dach aus Reisig und Gras. Oben fiel der Regen durch, unten stieg das Grundwasser. Es gab einen Liter Wasser pro Tag zum Trinken und Waschen. Man verhungerte nicht, man verdurstete in der Hitze, man bekam vom Dreck und Ungeziefer eitrige Wunden mit Tetanus. Jeder im Lager fürchtete den Kolchos. Ich war sicher, statt mir den Schal zu bezahlen, lässt Tur Prikulitsch mich auf dem Kolchos krepieren, dann hat er den Schal von mir geerbt.
    Ich ging um sechs Uhr los mit meinem Kopfkissen in der Jacke, falls es auf dem Kolchos etwas zu stehlen gibt. DerWind pfiff über die Kraut- und Rübenfelder, die Gräser wiegten sich orange, der Tau glitzerte in Wellen. Darin stand feuriges Meldekraut. Der Wind kam von vorn, die ganze Steppe lief in mich hinein und wollte, dass ich zusammenbreche, weil ich mager war und sie gierig. Hinter einem Krautfeld und einem schmalen Stück Akazienwald kam die erste Abraumhalde, dann Grasland, dahinter ein Maisfeld. Dann kam die zweite Abraumhalde. Erdhunde schauten übers Gras, braune Pelzrücken mit fingerlangen Schwänzen und bleichen Bäuchen standen auf den Hinterbeinen. Ihre Köpfe nickten, ihre Vorderpfoten waren zusammengelegt wie Menschenhände beim Beten. Auch ihre Ohren waren seitlich am Kopf angewachsen wie bei den Menschen. Eine letzte Sekunde nickten die Köpfe, dann schaukelte leeres Gras über den Erdlöchern, aber ganz anders als vom Wind.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass die Erdhunde spüren,

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