Atlan 07 - Illochim 01 - Das Relikt der Macht
den Stuhl fallen. Sie blickte verstört um sich, als sähe sie ihn und die Wohnung zum ersten Mal. »Immer wieder. Ich hab in den guten Phasen die vielen Einsätze koordiniert. Ich muss dir etwas beichten, Trissa.«
Er holte ihr einen Becher Kaffee und setzte sich ihr gegenüber. Ihr Haar hing strähnig und verfilzt herunter. Sie nahm die Brille ab und sah ihn aus müden, geröteten Augen an.
»Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hab hundert Mal angerufen«, sagte er vorwurfsvoll.
Olgej trank den heißen Kaffee in kleinen Schlucken, zuckte mit den Schultern und antwortete stockend: »Simmi hat’s mir verboten. Ich musste für ihn und Greta arbeiten, fast die ganze Zeit. Und dann ist es mir schlecht gegangen, also bin ich zu der Muschel hinuntergeklettert und hab’ mich hineingelegt.«
»Ich konnte deine Spuren sehen, aber wir haben uns niemals getroffen«, antwortete Tristan. Seine Unruhe steigerte sich. »Warst du oft unten?«
»Ja. Sehr oft. Und einmal ist mir Simmi Orloff gefolgt, ohne dass ich es gemerkt habe.«
»Simmi also. Und, weiter …?«
»Er hat mir zugesehen und gewartet, bis die Muschel sich wieder geöffnet hat. Ich wäre nicht in die Muschel geklettert, wenn es mir nicht richtig mies gegangen wäre. Du musst mir glauben.«
»Ich glaube dir. Was hat Simmi unternommen?«
Sie rührte gedankenlos im Becher, spielte mit dem Löffel, blinzelte ihn an und sagte: »Er hat schnell begriffen und nur wenige Fragen gestellt. Ich konnte ihn nicht anlügen, weil … er hat gemerkt, was mit mir passiert ist.«
Olgej wirkte hilflos und verstört. Offenbar befand sie sich in einer ihrer depressiven Phasen. Tristan brauchte nur ein paar Sekunden, um zu begreifen, was vorgefallen sein musste.
»Simmi hat dir zugesehen, hat herausgefunden, dass du dich danach hervorragend fühlst und hat sich schließlich selbst in die Austernmuschel gelegt. Richtig?«
Sie nickte und senkte den Kopf.
Tristan versuchte, die Konsequenzen zu überblicken. Wenn Simmi die Wirkung des Sarkophags erkannt hatte – und daran war nicht zu zweifeln –, wusste es auch Greta Gale. Also hatte auch Greta längst Platz in der Muschel genommen. Tristan schauderte beim Gedanken an das Paar und dessen Verhalten in beiden Stimmungszuständen. Das Paar war extrovertiert und selbstbezogen. In den Hochphasen würden sie ihre Überlegenheit ausnutzen und die Mitglieder von MEINLEID wie eine Privatarmee befehligen. Was taten sie, wenn sie von Depressionen heimgesucht wurden?
»Simmi benimmt sich, als würde er Terrania niederbrennen wollen«, sagte Olgej plötzlich. »Und wenn die Hochstimmung vorbei ist, streitet er sich mit Greta. Beide sind wütend, unruhig und würden sich am liebsten die Augen auskratzen. Oder sie haut ihm auf die Finger, wenn er nach ihr greift. Ich hab es nicht mehr ausgehalten.«
Tristan betrachtete Olgej, die wie ein Häufchen Unglück vor ihm saß. Also gab es jetzt vier Bewohner Kunshuns, die von der Stimmungsmaschine beeinflusst und nach ihrer Wirkung süchtig waren. Simmi Orloffs skrupelloses Verhalten, sein ungezügeltes Verhältnis zu hochprozentigem Alkohol und seine Versuche, sich in bestimmten Situationen wie Perry Rhodan zu benehmen – allein der Gedanke daran ängstigte Tristan, jetzt, nach diesem Geständnis, noch viel mehr.
»Du hast also die Streiterei nicht mehr ausgehalten und bist aus deiner Wohnung geflüchtet. Stimmt’s?«, vermutete Tristan. »Willst du hier bei mir bleiben? Oder muss ich damit rechnen, dass Simmi oder Greta hier auftauchen?«
»Ich weiß es nicht, ehrlich.« Olgejs Schultern sackten nach vom. Sie flocht ihre Finger ineinander und hätte fast den Kaffeebecher umgeworfen. »Anulphe und Baluchman, die Anführer, sie reden so oft wirres Zeug, geben Befehle, scheinen sich gegenseitig umbringen zu wollen. Dann wieder weinen und winseln sie vor Liebe, und Simmi reibt ständig die Narbe an seiner Nase, so, als ob er Rhodan wäre.«
Seit dem Anschlag auf die Polizeistation zählte sich Tristan bewusst nicht mehr zu den bedingungslos gehorsamen Anhängern Simmis und Gretas. Je mehr er nun darüber nachdachte, was Simmi und Greta anrichten konnten, desto größer wurde seine Verwirrung. Die Notwendigkeit, Kunshun zu erhalten, war eine Sache. Eine Art Bürgerkrieg aus dem Viertel in die Stadt hinauszutragen, eine andere. Noch gab es überwiegend Materialschäden. Bald waren es mehr Tote und Verletzte zu erwarten. Aber er und Olgej würden nicht zu den Opfern zählen.
»Wir können
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