Atlan 14 - Monolith 04 - Der Silbermann
entluden sich schlagartig alle Emotionen, die sich in ihm aufgestaut hatten. Sehnsucht, Liebe, Angst, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und der Hass auf sich und das Universum brachen aus und donnerten durch seinen Körper.
Kein Moment in seinem Leben war je intimer gewesen als dieser. Ihre Zungen umwanden sich, zuerst zaghaft, beinahe ängstlich, dann immer schneller. Intensiver. Verzweifelter. Rücksichtsloser.
Dies war der Moment. Er veränderte alles, was vorher gewesen war und danach noch kommen mochte.
Es war kein zärtlicher Kuss verliebter Menschen. Schwer durch die Nase atmend, hob nun auch Naileth ihre Hände, umfasste seinen Kopf und zog ihn noch näher an sich heran. Ein leises Wimmern entstieg ihrer Kehle. In Santjun stieg Angst auf. Fantasierte er? Dies konnte nicht die Wirklichkeit sein, das Leben musste eine weitere seiner unbarmherzigen Schicksalskarten ausspielen.
Als ihr gemeinsamer Moment in Santjun erstarb, bemerkte er mit einem Mal einen intensiven Geschmack nach Silber.
Silbermetallisch!
Abrupt drückte Santjun Naileths Gesicht von sich weg. Ließ sie los. Ihre Augen waren tränenverschleiert.
»Naileth, ich …«
Sie blickten sich einen Moment lang an. Unendlich hilflos.
»Deflektor!«, stieß er mit gequetschter Stimme aus.
»Nein!«, schrie Naileth.
Instinktiv blickten ihre Augen suchend umher, als er aus ihrem Sichtbereich verschwand.
Er wandte sich ab und rannte hinaus.
»Santjun«, flüsterte Naileth mit leerer Stimme.
Es schmerzte ihn, als hätte man ihm eine Eisenstange quer durch den Brustkorb getrieben.
Teil 2
Kapitel 21
Auf der Suche: Naileth
Naileth bemühte sich, möglichst ruhig und bedächtig zu wirken. In ihr sah es jedoch ganz anders aus. Sie wünschte, sie wäre in der Zentrale eines Raumschiffs und nicht hier, in diesem Drecksloch. Im Kommandosessel eines Kreuzers sitzen! Ja, das wäre es. Da hätte sie mit flackernden Schutzschirmen einem Heer von Gegnern gegenüberstehen können und wäre selbstsicherer und ruhiger gewesen als in diesem Moment.
Flüchtig blickte Naileth auf ihr Armband-Chronometer. Es zeigte den 27. April 3112, zwei Uhr nachmittags.
Sie fragte sich, ob es klug gewesen war, auf eigene Faust loszuziehen, um Santjun zu suchen. Seit einem ganzen Shenzen-Tag hatten sie von dem Risiko-Agenten nichts mehr gehört oder gesehen. Die Sorge um ihn wuchs mit jeder Minute.
Nach einer kurzen, schlaflosen Nacht hatte sie beschlossen, nach ihm zu suchen. Atlan hatte angeordnet, dass sie mindestens einen von Poltors Leuten mitnehmen sollte, doch Naileth hatte ihn – einen unwirsch dreinblickenden Ekhoniden – bei der erstbesten Gelegenheit abgehängt.
Sie blickte sich unauffällig um. Die 32. Straße war fast leer. Ein rothaariger Junge, wahrscheinlich ein Springer, ging von Passant zu Passant. Zweimal erhielt er etwas in die ausgestreckte Hand gedrückt, einmal fing er sich eine Ohrfeige ein. Der Junge sah sich um und erkannte in Naileth ein neues Opfer. Vorsichtig kam er auf sie zu.
Naileth wollte diese Begegnung vermeiden und drückte hastig auf die Taste des Kom-Feldes neben der Tür.
Ja? , knarrte es sofort aus dem Feld.
»Ich bin hier wegen des Tests«, sagte sie unterdrückt.
Poltors Kontakt hatte ihr gesagt, wie sie sich verhalten musste. Es war derselbe Mann gewesen, der Santjun an dieser Adresse erkannt haben wollte.
Treppe rauf, erste Tür links.
Die Tür schwang auf und Naileth ging hinein. Sie stand nun in einem ziemlich verschmutzten Treppenhaus. Die Nässe des Bodens hatte sich in die Tapeten der Wände gefressen. Stinkend grauer Pilzbelag überdeckte die braune Musterung. Indirekte Lichtquellen verbreiteten eine diffuse Helligkeit.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Naileth straffte sich und erklomm die Treppe. An der beschriebenen Tür klebte ein Stück Pappe auf der mit krakeligen akonischen Schriftzeichen »Zweimal klopfen und eintreten« stand.
Sie folgte der Aufforderung und fand sich in einem überraschend sauber aussehenden Zimmer mit weiß gestrichenen Wänden wieder. Drei Liegen dominierten den Raum. Auf der mittleren lag – unter Decken verborgen – eine Gestalt. Im Hintergrund standen zwei hohe Schränke aus grauem Kunststoff. Davor hatte sich ein Mann mit kahlem Schädel und stechenden schwarzen Augen postiert. Er trug einen grünen Kittel und weiße Hosen. Ein Ara – oder eher ein Mischling, wie Naileth zu erkennen glaubte. Er war um einiges kleiner als normale Aras. Naileth tippte
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