Atlan TH 0004 – Logbuch der SOL
dass er sich in einer unangebrachten Form von Galgenhumor erging.
»Was hast du zu verlieren?« Atlan reagierte scharf auf die Erheiterung des High Sideryt. »Wie du selbst gesagt hast, habe ich bereits von einem stillgelegten Terminal aus versucht, mit SENECA zu sprechen, und weiß deshalb aus eigener Erfahrung, dass er nicht mehr zufriedenstellend arbeitet. Ich glaube jedoch, dass ich mit einer direkten Verbindung, wie nur du sie herstellen kannst, mehr Erfolg hätte.«
»Vergiss es«, winkte Chart Deccon ab. Er wurde wieder ernst. »Niemand außer mir darf mit der Bioinpotronik kommunizieren. Wir haben es mehrfach versucht und sind gescheitert. Sobald sich eine weitere Person in diesem Raum aufhält, meldet er sich erst gar nicht.«
Der Arkonide verzog die Mundwinkel und nickte. Er hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet.
»Nun gut«, sagte er ohne Enttäuschung, »stellen wir diese Möglichkeit vorerst zurück. Ich habe noch eine andere Idee. An Bord geht das Gerücht von den sogenannten Schläfern um, die in einer schweren Krise geweckt werden können.«
»Das ist kein Gerücht«, erwiderte Chart Deccon leise. »Die Schläfer existieren tatsächlich.«
»Und?«, fragte Atlan drängend. »Was hat es mit ihnen auf sich? Was weißt du über die Schläfer? Kennst du ihre Namen?«
Der Bruder ohne Wertigkeit zögerte mit seiner Antwort. Der Gedanke an die Handvoll Menschen, die seit fast zweihundert Jahren im Tiefschlaf lagen, bereitete ihm weiterhin Unbehagen. Es handelte sich um Persönlichkeiten aus der Anfangszeit des langen Fluges. Solgeborene zwar, aber mit völlig anderen Einstellungen und Idealen, als sie heute verbreitet waren. Jeder für sich würde zwar mit seinem Wissen oder seinen Fähigkeiten eine wertvolle Bereicherung für die Führungsspitze der SOLAG darstellen. Es war jedoch so gut wie ausgeschlossen, dass sich die Schläfer dazu bereitfanden, auf Dauer mit einem diktatorischen Regime zusammenzuarbeiten. So gesehen würden sie eine ständige Gefahrenquelle darstellen.
Das war einer der Gründe, warum der High Sideryt so lange gezögert hatte, die Schläfer zu wecken. Prinzipiell war er sich allerdings darüber im Klaren, dass er, je länger die Krise anhielt, früher oder später nicht umhinkommen würde, diese letzte Möglichkeit zur Rettung der SOL ebenfalls auszuschöpfen.
»Es sind Solaner«, ging er schließlich auf Atlans Fragen ein, »die über ein ausgeprägtes Wissen und eine hohe Intelligenz verfügen. Sie wurden seinerzeit in Tiefschlaf versetzt, weil man der Ansicht war, auf solche Leute auch nach Ablauf ihrer biologischen Lebensspanne nicht verzichten zu können. Sie sollten der Gemeinschaft erhalten bleiben, um der SOL und ihren Bewohnern in schwierigen Situationen beizustehen.«
Obwohl er es zu verbergen suchte, wurde der Arkonide nun sichtlich unruhig. Der Grad seiner Erregung schien mit jedem Wort zu steigen.
»Zumindest ist das die offizielle Darstellung«, fügte Chart Deccon nach kurzer Pause hinzu. »Die tatsächlichen Gründe für die Existenz der Schläfer waren andere.«
»Warum erzählst du mir dann nicht die Wahrheit?«, forderte der Arkonide.
Der High Sideryt hob die Schultern und stand auf. Wortlos stieg er die Stufen hinab. Nachdem er begriffen hatte, dass er – so, wie die Dinge lagen – die Erweckung der Schläfer nicht würde verhindern können, sah Chart Deccon keinen Grund mehr, dem Arkoniden die wahren Umstände zu verschweigen, die damals zu jenem dramatischen Schritt geführt hatten.
Die Gelegenheit war günstig. Im Schiff war es einigermaßen ruhig. Die Gravitationskräfte, die zwischen der SOL und dem Quader wechselwirkten, schienen sich im Moment gegenseitig zu neutralisieren. Der High Sideryt war sicher, dass dieser Zustand nicht von Dauer war. Irgendwann in den nächsten Stunden oder Tagen würden die Erschütterungen von Neuem einsetzen, wahrscheinlich sogar in weit schlimmerem Ausmaß als zuvor. Noch hielt die Atempause jedoch an.
Chart Deccon wollte sie nutzen. Er öffnete die Schublade eines der schwarzen Schränke und entnahm ihr eine Schatulle, die aus reinem Elfenbein gefertigt und mit silbernen Beschlägen versehen war. Vorsichtig, als handele es sich um einen leicht zerbrechlichen Gegenstand, stellte er das Behältnis auf eine Ablage.
Atlan war neben ihn getreten und betrachtete die Schatulle.
»Ein wertvolles Stück«, meinte er anerkennend. »Was bewahrst du darin auf?«
»Ein Tagebuch«, antwortete der Bruder ohne Wertigkeit
Weitere Kostenlose Bücher