Atlan TH 0004 – Logbuch der SOL
bereitwillig. »Du wolltest die Wahrheit über die Schläfer wissen. Du kannst sie darin nachlesen.«
Der Einband bestand aus knickfestem, an Pappe erinnerndem Material. Dazwischen befanden sich, zum größten Teil nur lose geheftet, mehrere Hundert Seiten, auf denen sowohl sachliche Notizen als auch persönlich gefärbte Darstellungen niedergeschrieben waren. Selbst handschriftliche Eintragungen fehlten nicht, und manchen Stellen, an denen es dem Chronisten an Zeit oder Geduld gemangelt hatte, waren Informationsschablonen beigefügt, deren Inhalt von einem Computer-Sichtgerät dechiffriert und lesbar gemacht werden konnte.
»Ich nenne es das Logbuch der SOL «, erklärte Chart Deccon, während der Arkonide den Band nachdenklich in den Händen wog. »Die Eintragungen, die es enthält, sind oft bedeutsamer und aussagekräftiger als die Aufzeichnungen in den offiziellen Speichern. Du findest darin subjektive Berichte aus der Sicht des jeweiligen Verfassers ebenso wie viele wichtige Hintergrundinformationen, nach denen du in den elektronischen Logbüchern vergeblich forschen wirst.«
Atlan versuchte sich vorzustellen, wie kostbar dieses für ein modernes Raumschiff ungewöhnliche Zeitdokument sein mochte. Die Sammlung war dick und schwer, aber die Masse allein konnte den hohen ideellen Wert keinesfalls aufwiegen.
Eigentlich, überlegte er, war seine Situation grotesk. Er befand sich an Bord eines Schiffes, das jeden Moment von überstarken Anziehungskräften zerrissen werden konnte, stand neben einem Mann, der sein ärgster Feind hätte sein müssen, wusste die schussbereiten Waffen mehrerer Kampfroboter auf sich gerichtet – und hatte nichts Wichtigeres zu tun, als sich über abstrakte Bewertungen Gedanken zu machen und in alten Aufzeichnungen zu blättern!
Der Faszination, die das Logbuch ausstrahlte, vermochte er sich jedoch nicht zu entziehen. Die ersten Einträge stammten, wie er feststellte, von Joscan Hellmut, dem früheren Sprecher der Solgeborenen, der die Sammlung eröffnet und über lange Jahre fortgeführt hatte, bevor ein anderer seine Arbeit übernahm. Atlan hatte den Kybernetiker noch persönlich gekannt, er hatte ihn stets als besonnenen und fairen Menschen geschätzt. Inzwischen musste er längst tot sein wie all die anderen, mit denen er damals auf der SOL zusammengetroffen war.
Atlan musste sich zwingen, nüchtern zu bleiben. Jetzt war nicht die Gelegenheit, sich in Gedanken über vergangene Zeiten zu verlieren. Wenn er in Chart Deccons Augen sah, konnte er allerdings erkennen, dass dieser wohl ähnlich melancholische Gedanken wälzte, wenn auch auf einer anderen Basis.
»Hast du es gelesen?«, fragte der Arkonide.
»Nicht komplett. Meistens suche ich mir eine beliebige Stelle aus und versuche, die Geschehnisse, auf denen der entsprechende Bericht basiert, gedanklich nachzuvollziehen.«
Atlan nickte. Die Auskunft machte ihm klar, dass auch ein Mann wie der Bruder ohne Wertigkeit, der die absolute Macht für sich beanspruchte und den eigenen Vorteil und seine Person über alles andere stellte, Stunden der Besinnung und der inneren Muße brauchte, in denen er die Maske der Härte und Unnachgiebigkeit ablegen konnte. Zumindest darin unterschied er sich nicht von anderen Menschen.
Auffordernd reichte ihm der Arkonide das Logbuch zurück.
»Wo finde ich die Einträge über die Schläfer?«
Trotz aller drängenden Probleme war er entschlossen, sich ein umfassendes Bild über die damaligen Vorkommnisse zu machen. Vielleicht dauerte die Ruhe an Bord lange genug an, dass er die entsprechenden Berichte in sich aufnehmen konnte: Er hoffte es.
Chart Deccon blätterte einen Moment, bis er die Stelle gefunden hatte. Er klappte die Seite auf und legte das Buch vor dem Arkoniden auf die Schrankplatte.
Atlan wurde von einer unnatürlichen Ruhe erfasst. Alle Gefahren und Sorgen, die das Leben an Bord zurzeit bestimmten, schienen plötzlich gegenstandslos.
Bevor er zu lesen begann, suchte er das Datum, an dem der Eintrag gemacht worden war.
Es war der 4. Mai 3608.
9.
Vor Wochen bereits war das Objekt auf den Orterschirmen der SOL aufgetaucht. Schon damals, als der erste Impuls empfangen wurde, war allen Beobachtern klar geworden, dass es sich um einen äußerst stark im mehrdimensionalen Bereich strahlenden Körper handeln musste.
Entgegen den sonstigen Gewohnheiten der Arbeitsgemeinschaft war diesmal kein Ausweichmanöver veranlasst worden. Mit unverminderter Geschwindigkeit trieb das
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