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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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immer noch halb lachend. »Nichts an ihm dran! Beine wie’ne Vogelscheuche!«
    »Beine wie’ne Vogelscheuche, Beine wie’ne Vogelscheuche!«, äffte Ronnie ihn bösartig nach. »Heb ihn hoch, verdammt noch mal, du dämlicher Spaghetti-Wichser, wir sind hier nicht auf’ner Kunstausstellung! Lenny und Barry, ihr fasst ihn unter seinem verkümmerten Arsch. Dann kommt ihr mit hoch …«
    »… wenn ihr anderen ihn anhebt«, beendete Lennie den Satz. »Kapiert. Und wehe, du sagst noch mal ›Spaghetti‹ zu meinem paisan! «
    »Lasst mich in Ruhe«, sagte Stoke hustend. »Hört auf damit, nehmt eure Finger weg … ihr beschissenen Verlierer …« Der Husten überwältigte ihn wieder. Er begann, grauenhafte, würgende Laute von sich zu geben. Im Lichtschein der Lampen sahen seine Lippen grau und glänzend aus.

    »Ausgerechnet du musst andere Verlierer nennen«, sagte Ronnie. »Du beschissener, halb ersoffener, verkrüppelter Homo.« Er schaute zu Skip hinüber. Wasser lief ihm über die welligen Haare und das picklige Gesicht. »Zähl an, Kirk.«
    »Eins … zwei … drei … jetzt! «
    Wir hoben ihn hoch. Stoke Jones kam wie ein geborgenes Schiff aus dem Wasser. Wir schwankten mit ihm hin und her. Einer seiner Arme baumelte vor mir; er hing für einen Moment da, dann kam die Hand am Ende des Arms hoch und schlug mir kräftig ins Gesicht. So was Abgedrehtes! Ich fing wieder an zu lachen.
    »Lasst mich runter! Lasst mich runter, ihr Arschgeigen!«
    Wir taumelten, tanzten auf dem Matsch; Wasser rann an ihm herunter, Wasser rann an uns allen herunter. »Echolls!«, brüllte Ronnie. »Marchant! Brennan! Menschenskind, wie wär’s, wenn ihr mal’n bisschen mit anpacken würdet, ihr gehirnamputierten Pappnasen? «
    Randy und Billy planschten nach vorn. Andere - drei oder vier, die von den Schreien und dem Geplansche angelockt worden waren, die meisten allerdings nach wie vor Mitglieder der Hearts-Gruppe aus dem zweiten Stock - hielten Stoke ebenfalls fest. Wir drehten ihn unbeholfen um und sahen dabei wahrscheinlich wie die spastischste Cheerleader-Gruppe der Welt aus, die aus irgendeinem Grund im strömenden Regen trainierte. Stoke hatte aufgehört, sich zu wehren. Er lag in unserem Griff, seine Arme hingen zu beiden Seiten herunter, und die Handflächen waren nach oben gekehrt und füllten sich mit winzigen Regenlachen. Verebbende Wasserfälle ergossen sich aus seiner vollgesogenen Jacke und seinem Hosenboden. Er hat mich auf die Arme
genommen und getragen, hatte Carol gesagt. Sie hatte über den Jungen mit dem Bürstenschnitt gesprochen, den Jungen, der ihre erste Liebe gewesen war. Den ganzen Broad Street Hill rauf, an einem der heißesten Tage des Jahres. Er hat mich auf den Armen getragen. Ich bekam ihre Stimme einfach nicht aus dem Kopf. In gewissem Sinn ist mir das nie gelungen.
    »Ins Wohnheim?«, wandte sich Ronnie an Skip. »Bringen wir ihn ins Wohnheim?«
    »Herrje, nein«, sagte Nate. »In die Krankenstation.«
    Da wir es nun geschafft hatten, ihn aus dem Wasser zu heben - das war der schwierigste Teil gewesen, und der lag hinter uns -, hatte sein Vorschlag einiges für sich. Die Krankenstation war ein kleiner Ziegelbau gleich hinter Bennett Hall, nicht mehr als drei- oder vierhundert Meter entfernt. Sobald wir vom Pfad auf die Straße kamen, würden wir wieder festen Boden unter den Füßen haben.
    Wir brachten ihn also zur Krankenstation, trugen ihn in Schulterhöhe wie einen gefallenen Helden, der feierlich vom Schlachtfeld abtransportiert wurde. Einige von uns prusteten und kicherten immer noch ein bisschen vor sich hin. Ich auch. Einmal sah ich, wie Nate mich mit einem Ausdruck allertiefster Verachtung anblickte, und ich versuchte, die Laute, die aus mir herauskamen, zu unterdrücken. Eine kleine Weile gelang es mir ganz gut, dann dachte ich daran, wie er sich auf seiner Krücke gedreht hatte (»Die olympischen Punktrichter geben ihm … alle EINE ZEHN!«) , und fing wieder an.
    Stoke machte nur ein einziges Mal den Mund auf, nämlich als wir ihn den Gehweg zur Tür der Krankenstation entlangtrugen. »Lasst mich sterben«, sagte er. »Tut einmal in
eurem blöden, gierigen, egozentrischen Leben was Vernünftiges. Setzt mich ab, und lasst mich sterben.«

35
    Das Wartezimmer war leer. Im Fernseher in der Ecke lief eine alte Bonanza -Folge, aber niemand sah zu. In jener Zeit kriegten sie das mit dem Farbfernsehen noch nicht so richtig hin, und Ben Cartwrights Gesicht hatte die Farbe einer frischen Avocado.

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