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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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seien genauso weiß wie der verdammte Bob Dylan (»dieser Kalkeimer von’nem Folksinger«, wie Slocum ihn nannte). Slocum
dachte darüber nach und antwortete dann mit einem Ernst, der bei ihm selten war. Kann gar nicht angehn. Rare Earth, Mann, die sind schwarz. Bringen ihre Scheiben bei Motown raus, verdammt noch mal, und alle Motown-Bands sind schwarz, weiß doch jeder. Supremes, die Scheiß-Temps, Smokey Robinson and the Miracles. Bei allem Respekt, Deef, bist’n starker Typ und hast echt was drauf, aber wenn du mir noch mal mit dem Quatsch kommst, hau ich dich ausm Hemd.
    Slocum hasste Mundharmonikamusik. Bei Mundharmonikamusik musste er an den Kalkeimer von einem Folksinger denken. Wenn man ihm zu erklären versuchte, dass Dylan sich Gedanken über den Krieg machte, fragte Slocum, wieso der blökende Mothafucka dann nicht mal mit Bob Hope rüberkommen wollte. Ich sag dir, wieso, sagte Slocum. Hat die Hosen voll, deshalb. Dieser verdammte Mundharmonika spielende Schlappschwanz von’nem blökenden Mothafucka!
    Sully sann über Dieffenbaker und seine Geschichten aus den Sechzigern nach. Dachte an die alten Namen, die alten Gesichter, die alten Zeiten. Merkte nicht, dass die Nadel auf dem Tacho des Caprice von sechzig Meilen auf fünfzig und dann auf vierzig sank, dass der Verkehr auf allen vier Fahrspuren nach Norden allmählich dichter wurde. Er sah Pags vor sich, damals, drüben im Grünen - dünn, schwarzhaarig, die Wangen noch von der letzten postadoleszenten Akne gesprenkelt, ein Gewehr in den Händen und zwei Hohner-Mundharmonikas (eine in C, die andere in G) im Bund seiner Tarnhose. Dreißig Jahre war das jetzt her. Noch zehn Jahre weiter zurück, und Sully war ein kleiner Junge, der in Harwich aufwuchs, mit Bobby Garfield befreundet
war und sich wünschte, Carol Gerber würde ihn, John Sullivan, nur einmal so ansehen, wie sie Bobby immer ansah.
    Später hatte sie ihn natürlich angesehen, aber nie genau auf dieselbe Weise. Lag es daran, dass sie nicht mehr elf gewesen war, oder daran, dass er nicht Bobby war? Sully wusste es nicht. Der Blick selbst war ein Mysterium gewesen. Er schien zu bedeuten, dass Bobby sie einfach umhaute, dass sie tausend Tode starb und mit Freuden weitersterben würde, bis die Sterne vom Himmel fielen und Flüsse bergauf strömten und der gesamte Text von »Louie Louie« bekannt war.
    Was mochte aus Bobby Garfield geworden sein? War er nach Vietnam gegangen? Oder zu den Blumenkindern? Hatte er geheiratet und Kinder gezeugt, war er an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben? Sully wusste es nicht. Er wusste nur eines mit Sicherheit, nämlich dass Bobby sich im Sommer des Jahres 1960 - dem Sommer, in dem Sully eine Gratiswoche im YMCA-Camp am Lake George gewonnen hatte - irgendwie verändert hatte und mit seiner Mutter aus der Stadt weggezogen war. Carol war bis zum Ende der Highschool geblieben, und obwohl sie ihn nie genauso angesehen hatte wie Bobby, war er ihr Erster gewesen und sie seine Erste. Eines Abends draußen auf dem Land, hinter einem Stall voller muhender Kühe, die einem Milchfarmer aus Newburg gehörten. Sully wusste noch, dass er süßes Parfüm an ihrem Hals gerochen hatte, als er kam.
    Woher diese merkwürdige Querverbindung zwischen Pagano in seinem Sarg und den Freunden aus seiner Kindheit? Vielleicht weil Pags ein bisschen so ausgesehen hatte wie Bobby damals in jenen längst vergangenen Tagen. Bobbys
Haare waren dunkelrot gewesen, nicht schwarz, aber er hatte den gleichen schmächtigen Körper und das gleiche eckige Gesicht gehabt … und die gleichen Sommersprossen. Ja! Sowohl Pags als auch Bobby hatten dieses Sommersprossengesprenkel auf den Wangen und dem Nasenrücken, genau wie Opie Taylor in der Andy-Griffith-Show, damals in den Sechzigerjahren! Oder vielleicht lag es einfach daran, dass man, wenn jemand starb, an die Vergangenheit dachte, die Vergangenheit, die verdammte Vergangenheit.
    Jetzt fuhr der Caprice nur noch zwanzig Meilen pro Stunde, und weiter vorn, kurz vor Ausfahrt 9, stand der Verkehr völlig still, aber Sully nahm noch immer keine Notiz davon. Auf WKND, dem Oldies-Sender, sangen? and the Mysterians »96 Tears«, und er dachte daran, wie er hinter Dieffenbaker her durch den Mittelgang der Kapelle nach vorn gegangen war, zum Sarg, um einen ersten Blick auf Pagano zu werfen, während die Hymnen vom Band liefen. Gerade waberte »Abide With Me« durch die Luft über Paganos Leichnam - Pags, der stundenlang vollauf zufrieden mit dem MG Kaliber.50

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