Atlantis
dass muss ein Scherz sein.« Er streckte die Hand zu dem Stern und der Mondsichel aus - sie waren mit gelber Kreide gezeichnet statt mit violetter -, hielt ein paar Millimeter darüber inne und zog die Hand dann wieder zurück. Ein rotes Band, das sich an einer Fernsehantenne verfangen hatte, musste überhaupt nichts bedeuten. Wenn man das hier jedoch dazunahm - konnte es dann immer noch ein Zufall sein? Bobby wusste es nicht. Er war erst elf, und es gab unendlich vieles, was er nicht wusste. Aber er hatte Angst … Angst, dass …
Er stand auf und schaute sich um, rechnete halbwegs damit, auf der Asher Avenue eine ganze Schlange langer, grellbunter Wagen zu erblicken, die am helllichten Tag mit brennenden Scheinwerfern langsam auf ihn zugerollt kamen, wie Autos, die einem Leichenwagen zum Friedhof folgten. Rechnete halbwegs damit, Männer mit gelben Mänteln zu erblicken, die unter dem Vordach des Asher Empire oder draußen vor Sukey’s Tavern standen, Camels rauchten und ihn beobachteten.
Keine Autos. Keine Männer. Nur Kinder, die von der Schule nach Hause gingen. Unter ihnen waren die ersten Schüler und Schülerinnen von St. Gabe’s in ihren auffälligen grünen Uniformhosen und -röcken zu sehen.
Bobby machte kehrt und ging auf der Asher Avenue drei Blocks weit zurück. Die Kreidezeichnung auf dem Bürgersteig beunruhigte ihn dermaßen, dass er sich keine Gedanken über schlecht gelaunte Schüler von St. Gabe’s machte. An den Telefonmasten auf der Asher Avenue hingen nur ein
paar Anschläge, die für den Bingo-Abend in der Gemeindehalle von St. Gabriel warben, und ein Plakat Ecke Asher und Tacoma kündigte eine Rock-and-Roll-Show in Hartford mit Clyde McPhatter und Duane Eddy an, dem Mann mit der »Twang«-Gitarre.
Als er zum Zeitungsladen auf der Asher Avenue kam und damit fast schon wieder bei der Schule war, begann Bobby zu hoffen, dass er übertrieben reagiert hatte. Trotzdem ging er hinein und warf einen Blick aufs Schwarze Brett, dann lief er die ganze Broad Street hinunter bis zu Spicer’s Variety, wo er sich noch eine Kaugummikugel kaufte und sich ebenfalls das Schwarze Brett ansah. Die Karte mit dem Gartenpool-Angebot war nicht mehr da. Na und? Der Mann hatte ihn wahrscheinlich verkauft. Wozu hatte er die Karte denn sonst hingehängt, Herrgott noch mal?
Bobby ging hinaus und blieb an der Ecke stehen, kaute auf seiner Kaugummikugel herum und versuchte sich darüber schlüssig zu werden, was er als Nächstes tun sollte.
Erwachsen wird man von Natur aus nicht auf einen Schlag, sondern in holprigen Phasen und ungleichmäßigen, einander überlagernden Schritten. Bobby Garfield traf die erste erwachsene Entscheidung seines Lebens an dem Tag, als er die sechste Klasse beendete: Er entschied, dass es falsch wäre, Ted zu erzählen, was er gesehen hatte … jedenfalls vorläufig.
Seine Annahme, dass die niederen Männer nicht existierten, war erschüttert worden, aber Bobby war nicht bereit, sie aufzugeben. Nicht auf der Basis der bisherigen Indizien. Ted würde sich aufregen, wenn Bobby ihm erzählte, was er gesehen hatte - vielleicht so sehr, dass er seine Sachen wieder in die Koffer warf (und in die Henkeltüten, die zusammengefaltet
hinter seinem kleinen Kühlschrank lagen) und einfach verschwand. Falls wirklich irgendwelche üblen Kerle hinter ihm her waren, wäre es durchaus sinnvoll zu fliehen, aber wenn nicht, dann wollte Bobby den einzigen erwachsenen Freund, den er je gehabt hatte, nicht verlieren. Darum beschloss er abzuwarten, was als Nächstes geschehen würde - falls überhaupt etwas geschah.
In dieser Nacht erlebte Bobby Garfield noch etwas, das zum Erwachsensein gehörte: Er lag wach, bis es auf seinem Big-Ben-Wecker schon weit nach zwei Uhr morgens war, schaute zur Decke hinauf und fragte sich, ob er das Richtige getan hatte.
Kapitel vier
Ted hat einen Aussetzer
Bobby geht an den Strand
McQuown
Die Intuition
Am ersten Ferientag packte Carol Gerbers Mutter ihren Ford Estate Wagon mit Kindern voll und fuhr mit ihnen nach Savin Rock, einem Vergnügungspark am Meer, zwanzig Meilen von Harwich entfernt. Anita Gerber hatte das auch in den letzten drei Jahren schon so gemacht, und darum war es für Bobby, S-J, Carol, Carols kleinen Bruder und ihre Freundinnen Yvonne, Angie und Tina bereits eine uralte Tradition. Alleine wäre weder Sully-John noch Bobby mit drei Mädchen irgendwohin gefahren, aber da sie beide mit von der Partie waren, ging das in Ordnung. Außerdem waren
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