Atlantis
Ted verkleidet war.
Trotzdem war er hergekommen, um seinen Freund aus dem Erdgeschoss Baseball spielen zu sehen. Obwohl es kein richtiges Spiel war, merkte Bobby, wie sich ein absurd großer Kloß in seinem Hals bildete. Seine Mutter war in den zwei Jahren, die er nun schon spielte, nur ein einziges Mal gekommen, um ihm zuzusehen - letzten August, als sein Team bei der Drei-Städte-Meisterschaft dabei gewesen war -, und selbst da war sie beim vierten Inning gegangen, bevor Bobby den Ball zu dem Triple schlug, der sich als spielentscheidend erwies. Einer muss hier ja arbeiten, Bobby-O, hätte sie erwidert, wenn er es gewagt hätte, sie deswegen zu kritisieren. Dein Vater hat uns nicht gerade ein Vermögen hinterlassen, weißt du. Es stimmte natürlich - sie musste arbeiten, und Ted war pensioniert. Aber Ted musste sich vor den niederen Männern mit den gelben Mänteln verbergen, und das war ein Vollzeitjob. Dass sie nicht existierten, spielte keine Rolle. Ted glaubte es … aber er war trotzdem gekommen, um ihn spielen zu sehen.
»Wahrscheinlich irgendein alter Lustmolch, der sich von einem der Kleinen einen ablutschen lassen will«, sagte Harry Shaw. Harry war klein und zäh, ein Junge, der mit meilenweit vorgerecktem Kinn durchs Leben ging. Während Bobby mit Bill und Harry zusammen war, sehnte er sich auf einmal nach Sully-John, der Montag früh mit dem Bus nach Camp Winnie gefahren war (um fünf Uhr morgens, geradezu hirnerweichend früh). S-J geriet nur selten in Rage, und er war freundlich. Manchmal dachte Bobby, dass dies das Beste an Sully war - er war freundlich.
Von Platz C kam das saftige Knallen eines Schlägers - das respekteinflößende Geräusch eines Volltreffers, das noch keiner der Jungs auf Platz B hervorbringen konnte. Es wurde
von wüstem Beifallsgebrüll begleitet, und Bill, Harry und Bobby schauten ein wenig nervös in diese Richtung.
»Jungs von St. Gabe’s«, sagte Bill. »Die denken, Platz C gehört ihnen.«
»Dreckige Kath’liken«, sagte Harry. »Kath’liken sind Feiglinge - ich könnt’s mit jedem von denen aufnehmen.«
»Wie wär’s mit fünfzehn oder zwanzig?«, fragte Bill, und Harry schwieg. Ein Stück weiter vorn stand der Hotdog-Wagen, glitzernd wie ein Spiegel. Bobby betastete den Dollar in seiner Tasche. Ted hatte ihn aus dem Umschlag von Bobbys Mutter genommen, hatte ihm den Geldschein gegeben, den Umschlag dann hinter den Toaster gelegt und Bobby erklärt, er solle sich nehmen, was er brauche, wenn er es brauche. Bobby fühlte sich geradezu geadelt von diesem Ausmaß an Vertrauen.
»Sehen wir’s mal von der positiven Seite«, sagte Bill. »Vielleicht verprügeln die Jungs von St. Gabe’s den alten Lustmolch.«
Beim Wagen angelangt, kaufte sich Bobby nur einen Hotdog statt der geplanten zwei. Sein Appetit schien geschrumpft zu sein. Als sie zu Platz B zurückkamen, wo die Trainer der Wolves jetzt mit dem Ausrüstungskarren erschienen waren, war die Bank, auf der Ted gesessen hatte, leer.
»Kommt her, kommt her!«, rief Coach Terrell und klatschte in die Hände. »Wer will’n bisschen Baseball spielen?«
An diesem Abend bereitete Ted im Backofen der Garfields seinen berühmten Auflauf zu. Das bedeutete weitere Würstchen, aber im Sommer des Jahres 1960 hätte Bobby Garfield dreimal am Tag Würstchen essen können, und noch eine Portion zum Schlafengehen obendrein.
Er las Ted aus der Zeitung vor, während Ted das Abendessen machte. Ted wollte nur ein paar Absätze über den bevorstehenden Rückkampf Patterson gegen Johansson hören, den jedermann den Kampf des Jahrhunderts nannte, dafür aber jedes Wort des Artikels über den morgigen Kampf von Albini gegen Haywood im New Yorker Madison Square Garden. Bobby fand das ein wenig absonderlich, aber er war zu glücklich, um sich auch nur dazu zu äußern, geschweige denn, sich darüber zu beklagen.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen Abend ohne seine Mutter verbracht zu haben, und er vermisste sie, aber gleichzeitig war er auch erleichtert, dass sie für eine Weile weg war. In der Wohnung hatte seit Wochen, vielleicht sogar schon seit Monaten eine seltsame Spannung geherrscht. Es war wie ein elektrisches Summen, derart konstant, dass man sich dran gewöhnte und erst merkte, wie sehr es zu einem normalen Bestandteil des Lebens geworden war, wenn es plötzlich fehlte. Dieser Gedanke rief ihm eine andere Redensart seiner Mutter ins Gedächtnis.
»Na, was geht dir denn gerade durch den Kopf?«, fragte Ted,
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