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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Anstaltsmauer lebten, wieder zusammengeführt werden.
    In dieser Absicht war für ein Wochenende ein blaues Zirkuszelt auf den Wiesen von Steinhof errichtet worden. Insassen und Besucher sollten hier gemeinsam um Dompteure oder Tänzer am Hochseil bangen oder gemeinsam über einen Clown, der über unsichtbare Steine in unsichtbare Fallgruben stolperte, lachen. Ich hatte in diesem blauen Zelt aber auch Menschen gesehen, die über das Mißgeschick eines Clowns weinten.
    Hunderte Bewohner der Stadt in der Tiefe und der Pavillons waren zur Zirkusvorstellung, am nächsten Tag aber auch zu einem Lichtbildervortrag über Hawaii in den Theatersaal der Anstalt geströmt. Dem entzückten Seufzen und den
Aaahs
und
Ooohs
, die den weißen Kämmen der Brandung, den schwarzen, von Königspalmen gesäumten Lavastränden oder den Haufenwolken zugerufen wurden, die im Abendrot über viertausend Meter hohen Vulkanen standen, war nicht anzuhören, ob sie von einem Besucher oder einem Insassen kamen. Und selbst wenn ein Zuschauer im Morgenmantel oder im Pyjama vor den über die Leinwand huschenden vulkanischen Landschaften saß, war keineswegs sicher, daß er zu den Patienten gehörte, denn im Publikum herrschte offensichtlich Erleichterung darüber, daß innerhalb der Mauern am Steinhof – zumindest was Kleidung, Mienenspiel, Zurufe oder Schreie betraf – eine größere Freiheit herrschte als in der Welt
draußen
. Weil hier so viele Menschen nicht mehr beherrschten, was in ihrem Innersten tobte, sich dort in einen Kokon einspann oder versteinerte, war auch denen, die als Besucher kommen
und
gehen durften, mehr erlaubt als anderswo. Warum also sollte einer, der bloß die Straße überqueren mußte, um im Theatersaal der Anstalt unter Patienten Platz zu nehmen, dies nicht in seinem Pyjama, seinem Morgenmantel tun?
    Aber wie fern und unerreichbar die Namen der Inseln Hawaiis in den dichtbesetzten Reihen dennoch klangen: Molokai, Kauai, Oahu, Maui, Kahulaui, Lanai, Niihau … Schwarze Strandsicheln, dunkler, tropischer Wald zogen an einem Publikum vorüber, aus dem manchmal sogar Hände nach Früchten und Blüten ausgestreckt wurden. Ein knallroter Ara, der mit wehenden Schwanzfedern durch eine Lavawüste flatterte, erinnerte einen weißhaarigen Mann in einer Daunenjacke offensichtlich so sehr an ein Bild des Gartens Eden, daß er immer wieder Adam und Eva! rief, Adam und Eva!, immer wieder und auch dann noch, als der Vortragende sein Publikum mit einem springenden Leuchtpfeil bereits durch die Straßen von Honolulu führte.
    Erst als es am Ende aller Bildfolgen wieder hell wurde im Saal, wurde es auch still. Einigen, die beharrlich auf ein weiteres Bild warten und warten und warten wollten, wurde von Besuchern – oder waren es doch Bettnachbarn? – bedeutet, daß die Reise für heute zu Ende war. Ein Mann, der von einem Pfleger aus dem Saal geführt wurde, wollte immer wieder stehenbleiben, niederknien und unsichtbare Dinge, Gräser, Seeanemonen, vom Parkett pflücken. Im Foyer bat eine junge Frau darum, sich an meinen Schultern festhalten zu dürfen: sie wolle so hoch wie möglich springen. Und vor einem bodenlangen Garderobenspiegel sprang sie dann, bis sie außer Atem geriet, wieder und wieder hoch und rief dazu: Ich bin jung! Ich bin jung!, seht nur, wie meine Haare fliegen.
    Maria, Morgenstern,
    Pforte des Himmels,
    bitte für uns.
    Unter den Heimkehrern aus Hawaii waren schließlich auch einige, die nach dem Erlöschen der letzten Insel weder in ihre Pavillons noch in ihre Wohnungen zurückkehren wollten, sondern hinauf zur Kirche oder auf die weitläufigen Wiesen, die sich hinter der goldenen Kuppel in der Hügellandschaft des Wienerwaldes zu verlieren schienen, weil die Anstaltsmauer dort unsichtbar hinter Bäumen verlief.
    Ich hatte mich den Kirchgängern, von denen einige schon auf dem Weg zu singen begonnen hatten, angeschlossen und saß dann auf der Parkbank, las in meiner Fibel, kritzelte die Namen Mariens, mit dem Rücken zur Tiefe und allein den Engeln über dem Hauptportal und den Betenden zugewandt, in mein Notizbuch und bemerkte deswegen auch nicht, was am Himmel geschah. Hörte zunächst nur ein fernes Brausen, dann ein Rauschen, als näherten sich himmlische Heerscharen, herabbeschworen von den Anrufungen, Engel in einer so ungeheuren Zahl, daß ihre Schwingen den Himmel verfinsterten.
    Und dann verloren sich alle Stimmen, alle Namen und Worte in diesem Rauschen: Es waren tatsächlich Flügel, die

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