Atlas eines ängstlichen Mannes
Flügelschläge Tausender und Abertausender Saatkrähen, die an diesem wie an jedem anderen Abend auch ihre Schlafbäume am Steinhof aufsuchten, die ein in Ungnade gefallener Planer vielleicht nicht nur des Schattens und Vogelsangs wegen, sondern auch in der Absicht gepflanzt hatte, daß aus den Baumkronen Tag für Tag ein Beispiel dafür gegeben werde, wie das ging, wie das aussah: sich nach Belieben von der Erde zu lösen, sich über Dächer und Pavillons und Mauerkronen zu erheben oder auf unverrückbaren Orten unter einem fließenden Himmel nach Belieben auch wieder zu landen, dort zu singen, zu krächzen oder zu verstummen, um erneut aufzufliegen, allein oder in riesigen Schwärmen, und zu flattern oder zu segeln, wohin auch immer, jedenfalls aber auf und davon.
Der Tenor
Ich sah einen häßlichen Straßenzug in den Schneewirbeln eines arktischen Tiefdruckgebietes verschwinden: Plattenbauten mit schwarzen Fensterhöhlen; einen Lagerschuppen, dessen rissige Betonwände und verbeulte Schiebetore mit Totenköpfen und Comicfiguren bemalt waren; eine verlassene Baugrube, über die zwei verschneite Kräne ihre Gitterarme streckten; Baracken, entlaubte Birken und auf einer Anhöhe dahinter ein zehn oder zwölf Stockwerke hohes Denkmal in Gestalt eines Frontsoldaten aus Gußbeton … Unaufhaltsam versanken Häuser, Hügel, der turmhohe Soldat, der an blutige Kämpfe um die Polarregion erinnern sollte, zum klagenden Geräusch des Windes in kristallinen Wirbeln und Schleiern, bis vor meinem Fenster nur noch ein nach allen Richtungen wogendes Schneetreiben zu sehen war.
Ich saß in meinem zentral überheizten Zimmer im fünften Stock eines Hotels in Murmansk auf der russischen Halbinsel Kola und starrte in das chaotische Weiß. Mein Flug nach Moskau war wegen Schlechtwetters gestrichen worden und der Luftdruck seither weiter gefallen. Ich hatte durch diese Streichung auch meine Anschlußflüge nach London und Cork versäumt und würde heute auch die Hochzeit eines Freundes im irischen Baltimore versäumen. In einem immer wieder von Störgeräuschen unterbrochenen Telefongespräch hatte ich erfahren, daß dort zu dieser Stunde eine milde Herbstsonne schien und der Atlantik spiegelglatt vor der Steilküste lag.
Wäre ich doch, wie geplant, vor zwei Tagen bei bestem Flugwetter abgereist! Wäre ich doch, hätte ich doch … Ich hatte aber, verflucht, nach dem Ende einer Seereise in die Hocharktis meinen Aufenthalt in Murmansk noch um einen Tag verlängert: Wegen einer Rundfahrt! durch den Haupthafen der russischen Nordmeer- und Eisbrecherflotte und war dann an Bord eines zur touristischen Nutzung umgebauten Fischtrawlers an auslaufbereiten Schlachtschiffen vorbei und durch die Kola-Bucht gefahren, einen fast sechzig Kilometer langen Fjord der Barentssee, an dem in stillgelegten Werften und verrottenden Docks unzählige abgewrackte Kreuzer, Fregatten, Torpedoboote und U-Boote aller Klassen rostend, gekentert oder halb versunken im Wasser lagen.
Aus den wenigen Schiffen, die hier an verlassenen Kais und Molen nicht einfach der Zeit ausgeliefert, sondern noch ausgeschlachtet werden sollten, zuckten manchmal die blauen Blitze von Schweißfeuern und war das Geläute der Schläge von Kranarmen und Hämmern gegen das Metall der Aufbauten und Bordwände weithin über das glatte Wasser zu hören. Auch wenn in diesem Herbst der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums schon lange zurücklag, waren die Zeichen und Spuren des Verfalls in Hafen und Stadt allgegenwärtig:
Fast die Hälfte der Bewohner, zweihunderttausend Menschen, hatten Murmansk nach diesem Zusammenbruch gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verlassen: Werften, Fabriken, staatliche Handelshäuser waren geschlossen und ganze Verbände der Nordmeerflotte aufgelöst und abgewrackt worden. Wer geblieben war, hoffte auf eine neue Blüte durch die Ausbeutung der Polarregion, auf die Erschließung neuer Öl- und riesiger Gasfelder bis an den Nordpol – oder wenigstens auf einen wachsenden Eismeertourismus in ehemals militärischen Sperrgebieten.
Aber was, hatte der Steuermann des Fischtrawlers gesagt, was hatte man den Murmanskern zu Zeiten der Kommunisten und dann erst recht nach dem Verschwinden ihrer Sowjetunion nicht schon alles versprochen. Mehr als ein Zehntel des gesamten Fangs der sowjetischen Fischerei sei einst in Murmansk angelandet worden. Und jetzt? Jetzt gab es wohl kein Gewässer in Rußland, das von den abgewrackten U-Booten und ihren Atomreaktoren
Weitere Kostenlose Bücher