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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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und allem Öl und aller Chemie abgesoffener Schlachtschiffe schlimmer verseucht wäre als die Fanggründe in der Kola-Bucht und an den Küsten der Barentssee. Nein, das einzige Versprechen, das sich heute in dieser Bucht noch erfüllen werde, sei, daß sich die Nebelbänke, die wir gerade passierten, wohl demnächst lichten würden.
    Als der Morgennebel dann innerhalb der ersten Stunde der Hafenrundfahrt tatsächlich, wenn auch mit der Trägheit von Rauchschwaden bei Windstille, verflog, tauchten die Wracks aus den Dunstschleiern wie aus einem apokalyptischen Traum: seitlich im schwarzen Wasser liegende Schiffe, deren Kanonen in den wolkenlosen Herbsthimmel und gegen den Meeresgrund zeigten, U-Boote, die wie gestrandete Wale zwischen Felsen lagen; von einem Zerstörer ragten nur noch Brücke und Geschütztürme aus dem ölig schimmernden Wasser, und einige vom Rost gebräunte Fregatten waren von den Gezeiten oder in Stürmen gegeneinandergeworfen worden und lagen nun wie gigantisches Treibholz vor verfallenen Docks. Nur wenige Wracks schaukelten noch vertäut oder verankert auf dem Wasser, die meisten waren gekippt, gekentert, gesunken.
    Ich solle doch froh sein, hatte mir der Rezeptionist nach meiner Rückkehr vom soeben geschlossenen Murmansker Flughafen gesagt, bei diesem Wetter überhaupt noch ein freies, geheiztes Zimmer zu finden; er könne mir sogar meine alte Zimmernummer anbieten. Froh.
    Ich hatte nach meinem Einzug in das erst vor wenigen Stunden geräumte Zimmer ein nasses Handtuch auf den glutheißen Heizkörper gelegt und, als der Schneefall für kurze Zeit aussetzte, mit meinem Fernglas die um
Aljoscha
, den turmhohen Betonsoldaten, kreisenden Möwenschwärme beobachtet und die Plattenbauten im Blickfeld des Hotels: Unter vielen Fenstern dieser verwahrlosten Gebäude pendelten Nylonsäcke mit Lebensmitteln, hingen Kisten und Vorratskästen, vielleicht aus Mangel an Kühlschränken, vielleicht auch aus Platzmangel oder zum Schutz gegen Diebe, denn in diesen hängenden, über ganze Fassaden ausgebreiteten Speicherzonen waren auch Fahrräder zu sehen, Stühle, Kleidersäcke. Die Front eines Wohnblocks glich so der schwebenden Ausstellung von Dingen eines Lebens voller Mängel und vergeblicher Hoffnungen. Aber viele Bewohner, das zeigten ganze Reihen leerer Fensterhöhlen, mußten die Hoffnung bereits aufgegeben haben.
    Als ich mein Fernglas zur Seite legte, begann es wieder zu schneien, immer heftiger zu schneien, und ich sah die Kulissen der Armut mit bloßem Auge verschwinden. Ich setzte mich wieder in einen von Zigarettenglutspuren durchschossenen Lehnsessel aus Schaumstoff und machte mich per Fernbedienung einmal mehr auf die Suche nach ermutigenden Wetternachrichten. Und sah zunächst doch nur schneeverwehte Straßen- und Landepisten auf dem Fernsehschirm, vorüberhuschende Ausschnitte aus Seifenopern, Werbeprediger, babylonische Nachrichten und Botschaften – und irgendwann auch einen rundlichen Mann mit schiefen Zähnen in einem etwas knapp sitzenden Büroanzug, der vor großem Publikum im Scheinwerferlicht auf einer Bühne stand.
    Ich weiß nicht mehr, ob es sein schüchterner, fast verlegener Gesichtsausdruck, sein schüchternes, fast verlegenes Lächeln – oder die geringschätzigen Blicke und das verhaltene Grinsen waren, mit denen dieser Mann vom Publikum und der hinter einem Pult verschanzten Jury bedacht wurde, die mich dazu brachten, in meinem Lauf durch die Kanäle innezuhalten. Ich war offensichtlich in eine jener Casting-Shows geraten, die zu jener Zeit über die Fernsehstationen zahlloser Länder in zahllosen Sprachen ausgestrahlt wurden und bei denen in einem Knockout-Verfahren über wochenlange Fortsetzungen ein Sieger oder eine Siegerin ermittelt werden sollte, der oder die am besten singen, der oder die am besten tanzen oder in einem seltsam staksenden Gang mit todernster Miene lachhafte Mode auf einem Laufsteg präsentieren, kurz: etwas zeigen, vorführen konnte, mit dem angebetete Stars bereits weltberühmt geworden waren. Diesen Weltberühmtheiten galt es vor einer oft gnadenlos urteilenden Jury und zum Vergnügen eines per telefonischer Abstimmung beteiligten Millionenpublikums nachzueifern.
    Opera
, sagte der rundliche Mann auf die Frage eines Jurymitglieds, womit er denn sein Publikum hier und jetzt überzeugen zu können glaubte, er wolle Opera singen. Publikum und Jury lächelten.
    Aber als der rundliche Mann mit den schiefen Zähnen dann zu einer Arie aus der Oper

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