Atlas eines ängstlichen Mannes
Turandot von Giacomo Puccini ansetzte:
Nessun dorma
, Niemand schlafe!, und das Lied eines Prinzen in einer schlaflosen Kaiserstadt zu singen begann, wichen alle Zeichen von Zweifel und lächelnder Überlegenheit in den Mienen der Zuhörer einem Ausdruck vollkommenen Erstaunens, schließlich der Rührung, ja Begeisterung. Gegen Ende der Prinzenarie begann das Publikum sich von den Plätzen zu erheben und unter Bravogeschrei stehend zu applaudieren, eine Frau der Jury wischte sich verstohlen Tränen aus dem Gesicht, und auch ihre Kollegen konnten ihre Gefühle nur mit Mühe verbergen.
Erst viel später, lange nach dem Abzug des arktischen Tiefs und meiner um zwei Tage verspäteten Ankunft in Baltimore, wo es mittlerweile ebenfalls herbstlich kalt zu regnen begonnen hatte, sollte ich durch irische Freunde erfahren, daß ich in meinem Murmansker Hotelzimmer nur eine im Internet jederzeit abrufbare, ältere Aufzeichnung eines legendär gewordenen Auftritts und kein Ereignis der Echtzeit gesehen hatte:
Der rundliche Mann, ein in Wales geborener Opernfreund, hatte Philosophie studiert, in einem Supermarkt als Regalpacker gearbeitet, als Vertreter Mobiltelefone verkauft, jahrelang Gesangsstunden genommen und, von Krankheiten und Operationsfolgen geplagt, schon viel Hoffnung verloren, als er mit seiner Bewerbung für eine Casting-Show die letzte Chance nützen wollte, seinen Traum von einem Leben als Tenor zu verwirklichen. Und er hatte den Wettbewerb gewonnen.
Noch im Jahr seines Triumphes durfte er vor der englischen Königin singen, verdiente Millionen und mußte sein Glück dann auch bezahlen. Denn nach dem ersten, überraschten und gerührten Jubel fanden die kritischen Stimmen der zweiten Welle seinen Gesang doch nicht mehr so zauberhaft, seine Preisgelder und Honorare unverdient hoch, seine Auftritte dilettantisch. Und die Tatsache, daß sich der Verlierer nach dem ersten Sieg seines Lebens die schiefen Zähne begradigen ließ und den alten, schlecht und eng sitzenden Billiganzug gegen einen maßgeschneiderten Smoking getauscht hatte, erschien im veränderten Licht plötzlich als ein bedauerliches Zeichen verlorener Bescheidenheit.
In der Stunde des Schneesturms aber war noch kein Hauch von Mißgunst oder Neid zu spüren. Ich war vom Auftritt des rundlichen Mannes, seinem schüchternen Lächeln, seinem Gesang beeindruckt wie der Großteil seines weltweit verstreuten, unsichtbaren Publikums. Und in meinem Murmansker Hotelzimmer bestärkte seine Arie die Hoffnung, daß es den Weg aus einer verzweifelten Lage ins Glück tatsächlich geben und jeder, auch ein fast schon verlorener, rundlicher Mann mit schiefen Zähnen, ihn finden und gehen konnte. Und während dieser Prinz Liebe und Schlaflosigkeit besang, wurde ein kahles Hotelzimmer zur behaglichen Zuflucht, das ungeduldige Warten auf das Ende eines Sturmtiefs zur geschenkten Zeit und das Schneetreiben vor meinem Fenster weihnachtlich friedvoll wie in Kindheitsjahren, in denen noch mit allem Recht alles zu erhoffen war.
Mann ohne Sonne
Ich sah fünf lachende Männer an der Theke einer nach längst verschwundenen Kohle- und Baumaterialkähnen
Sandboat
genannten Bar in Ballydehob, einem Dorf in der südirischen Grafschaft Cork. Es war ein grauer Sonntagnachmittag im Juli und die Luft an der Theke, an der damals noch geraucht werden durfte, vom Zigarettenqualm so milchig und trüb wie der Himmel vom
drizzle
, staubfeinem Sprühregen.
Immer wieder von Zwischenrufen und Gelächter unterbrochen, erzählte einer der Männer, ein rotgesichtiger, massiger Zecher, der neben seinem fast leeren Bierglas bereits ein zweites, volles, vor sich hatte, eine Geschichte, die er nach jedem Einwurf um weitere Details bereicherte. Seine Zuhörer sollten der Geschichte am Ende den Titel
The man who never saw the sun rise
, Der Mann, dem die Sonne nicht aufging, geben und darüber einmal mehr in schallendes Gelächter ausbrechen.
Erzählt, gehört, belacht und kommentiert wurde an der Theke die Geschichte eines Steinmetzen aus einem Weiler an der Straße nach Mizen Head, in dem er ein Haus allein mit einem struppigen irischen Schäferhund, größer als eine Dogge, bewohnte. Der Steinmetz, einer von damals noch zwei Dutzend irischen Handwerkern im Unternehmen eines Baumeisters, der vor mehr als dreißig Jahren aus Deutschland eingewandert war, hatte sowohl vor seinen Freunden als auch vor der Madonna, wie er sagte, immer wieder geschworen, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, war
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