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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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aber an verschiedenen Wegkreuzungen immer wieder dazu gezwungen oder verführt worden, falsch abzubiegen und seinen Schwur zu brechen.
    Der Erzähler hob sein Glas, eine Pint
Beamish
, leerte es und trank seinen Zuhörern dann aus dem zweiten, noch vollen Glas zu. Die lachten und tranken auch.
    Die Trinkerei, ja schwere Räusche, mit denen er singend oder fluchend nach Hause gekommen war, wo sein Hund ihn ableckte und manchmal heulend in die Lieder seines Herrn einfiel … die Trinkerei hatte den Steinmetz jedenfalls immer wieder auch am rechtzeitigen Erscheinen auf dieser oder jener Baustelle gehindert, und schließlich war ihm, nach Entlassungen aus dieser oder jener Firma, nur noch der Baumeister aus Deutschland als Arbeitgeber geblieben. Mehr als einhundert in traditioneller irischer Steinbauweise unter diesem Meister errichtete Häuser hockten mittlerweile auf den Hügeln, an der Küste und in den Talsenken der ganzen Grafschaft, mehr als einhundert Häuser! Und an mehr als der Hälfte von ihnen hatte der Steinmetz mitgebaut. Daß er, wenn er nicht trank, zwölf und vierzehn Stunden und notfalls länger arbeiten konnte, war wohl auch einer der Gründe, warum dieser Deutsche dem Steinmetz zur Verwunderung einiger Leute in Ballydehob schon so vieles, wenn nicht alles, nachgesehen hatte …
    Es war an einem Regensonntag wie diesem gewesen, einem kalten allerdings, einem Sonntag im Winter, als der Baumeister sich wieder einmal mit einigen seiner Handwerker im
Sandboat
getroffen und sie auf eine Pint eingeladen hatte und noch eine; auch den Steinmetz. Wie viele Pints der und die anderen zuvor schon getrunken hatten, wußte damals wohl auch der Mann an der Schank nicht mehr genau. Hier, wie an allen Theken Irlands, war ja jedes Glas sofort zu bezahlen. An diesem Sonntag waren es gewiß viele gewesen.
    Es war bereits später Nachmittag, als der Baumeister sich verabschiedete und seinen Leuten das Versprechen abnahm, sich morgen früh an der Baustelle am Mount Gabriel nicht zu verspäten, auf keinen Fall zu verspäten! Der Bauherr dort, ein Zahnarzt aus Dublin, der jede seiner freien Sommerwochen hier im Süden verbrachte, würde Strafgeld einfordern, sollte sein Traumhaus nicht bis spätestens Mitte März beziehbar sein.
    Die strengste Ermahnung zur Pünktlichkeit galt dem Steinmetz. Er würde diesmal keine Nachsicht mehr mit ihm haben und ihn entlassen, entlassen müssen, sagte der Baumeister. Die nächste Verspätung würde, das sei versprochen, seine letzte sein, jedenfalls bei ihm, jedenfalls in seiner Truppe. Also dann, morgen um sieben Uhr früh auf dem Bau und keine Minute später. Versprochen, sagte der Steinmetz. Die anderen nickten bloß.
    Der Regen hatte aufgehört, die Wolken jagten in einem böigen Westwind dahin, und die kahlen Inseln draußen in der Roaringwater Bay lagen schwarz und brausend in der Nacht, als der Baumeister in seinem Haus, dessen Fenster die stürmische Küste und den zerrissenen Himmel rahmten, von Schlägen an sein Haustor von den Abendnachrichten im Fernsehen weggeholt wurde. Es war acht Uhr, so ungefähr, und stockdunkel.
    Vor der Tür stand der Steinmetz. Naß, zerzaust. Er mußte noch vor dem Ende des Regens von wo auch immer aufgebrochen sein, vielleicht von seiner Kate. Der Weg dorthin war weit. Er trug seine Arbeitskleidung und hatte in einem Plastiksack offensichtlich bereits den Proviant für eine Mittagspause bei sich und stammelte Entschuldigungen. Es sei der Wecker gewesen. Dabei habe er den Wecker doch vor dem Einschlafen kontrolliert, aber das verfluchte Ding, dieses Scheißding, hatte ihn im Stich gelassen. Selbst
Lucky
, der Hund, der ihn jeden Morgen bereits vor dem Alarm weckte, wenn er um sein Dosenfleisch bettelte, hatte sich diesmal nicht gerührt. Alles, alles habe sich ausgerechnet an diesem Morgen gegen ihn verschworen. Dieses Scheißleben sei wirklich voller Fallgruben.
    Lucky. Das steinalte Monster. Der Baumeister hatte den Hirtenhund und seinen Herrn vor einigen Monaten fotografiert, nachdem er den betrunkenen Steinmetz in Ballydehob aufgelesen, ihn nach Hause gebracht und ihm geholfen hatte, die Schuhe auszuziehen, die schmutzigen Kleider. Selbst ins Bett hätte der Betrunkene nicht ohne Hilfe gefunden. Der Hund hatte damals die Lähmung seines Herrn genützt und war in die leere, nicht aufgeschlagene Hälfte des Ehebetts gesprungen, hatte sich dort eingerollt und seufzend die Augen geschlossen.
    Und der Baumeister hatte der Versuchung nicht widerstehen

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