Atlas eines ängstlichen Mannes
Erzähler.
Zeitlupe
Ich sah ein Dreifinger-Faultier auf der Veranda eines blau gestrichenen Holzhauses an der Pazifikküste Costa Ricas. Das Haus, das einzige an einem von kupferfarbenen Algenbändern und angeschwemmtem Seegras bedeckten Strand der Halbinsel Osa, wirkte vor den Kämmen der pazifischen Brandung und der tiefgrünen, dem Küstenverlauf folgenden Mauer des Regenwaldes so klein und verloren, daß es nur eine Frage von Tagen, vielleicht bloß von Stunden zu sein schien, bis es samt einem Bootsschuppen, einem verwilderten Garten und einer rostzerfressenen Parabolantenne entweder vom Dschungel oder von den Wasserwalzen des Pazifiks, die sich an flachen Riffen brachen, verschluckt werden würde.
Das Faultier glich einem in Zeitlupe kraulenden Schwimmer, als es auf den von der tropischen Feuchtigkeit geschwärzten Bodenbrettern der Veranda abwechselnd einen seiner langen Arme langsam, sehr langsam hob und langsam, sehr langsam wieder sinken ließ, um sich an seinen fingerlangen Krallen vorwärtszuziehen. Zwei Meter in der Minute, höchstens, vermochte es auf diese Weise kriechend zurückzulegen. Die gebogenen Krallen, die ihm erlaubten, sein Leben kopfüber hängend oder wie in Trance kletternd in den Kronen des Urwalds zu verbringen, glitten auf dem feuchten Holz immer wieder aus und hinterließen dort wirres Gekritzel. Zentimeter um Zentimeter kroch und schob sich das Tier stumm durch bernsteinfarbene Glasfiberscherben, Bruchstücke eines bemoosten Vordaches, durch das es soeben auf die Veranda gestürzt war. Das Tier schien unverletzt und versuchte mit der unvergleichlichen Langsamkeit seiner Art zu fliehen.
Maria, die Frau eines Fischers, der mir am Vortag auf einer unruhigen Ausfahrt versteckte Fanggründe für Blaue Marline gezeigt hatte, war im Schatten der Veranda damit beschäftigt gewesen, Weißwäsche zu bügeln, als das Faultier mit einem das Brandungstosen und den Wind in den Bäumen übertönenden Krachen das Vordach durchschlagen, den Bügeltisch gestreift und umgeworfen hatte und mit einem dumpfen Poltern auf dem Bretterboden aufgeschlagen war.
Obwohl das Tier von seinen krallenbewehrten Armen bis zu den krallenbewehrten Beinen nicht viel mehr als einen Meter maß, hatte die Fallhöhe seines Sturzes aus der Krone eines Ameisenbaumes, dessen Blätter zu seiner bevorzugten Nahrung gehörten, ausgereicht, das Verandadach zu durchschlagen. Eine in den Hitzewellen und Wolkenbrüchen vieler Jahre spröde gewordene Glasfiberplatte hatte den Sturz zwar gemildert, war dabei aber zersprungen. Ein morscher, von Spechten gekerbter, armdicker Ast, der irgendwo hoch oben gebrochen und mit dem Faultier in die Tiefe gestürzt war, zeigte durch das Loch im Dach, in dem er steckengeblieben war, auf die Frau des Fischers.
Maria hatte den Metallkern ihres Bügeleisens an einer Zange über der Flamme eines Gaskochers erhitzen wollen, um ihn dann wieder in das Eisen zurückzustecken, als ihr dieses graue Fellbündel vor die Füße gefallen war, ein Dämon, ein böser Geist!, und hatte den glutheißen Kern, den sie seiner Form wegen
pescado
, Fisch, nannte, glühender Fisch, mit einem Entsetzensschrei fallen lassen und gespürt, wie ein Splitter des Vordaches ihre Schulter streifte.
Aber dann fiel eine Sonnenbahn durch das Loch im Dach auf das gestürzte Wesen und auf die bemoosten Scherben und Splitter am Boden, und Maria stieß das heiße Eisen, das zischend neben dem grauen Pelz lag, mit der Zange zur Seite. Denn auch wenn die Erscheinung eines Teufels oder bösen Geistes vielleicht ähnlich nach Feuer und Verbranntem stank, war, was ihr in die Nase stieg, doch nur der Geruch eines versengten Faultierfells.
Un perezoso!
Ein Faultier!, war vom Himmel gefallen, und ihr Mann Bonifacio würde ein uraltes Versprechen endlich einlösen und das verrottete Verandadach erneuern müssen. Jetzt lachte sie.
Der Lärm des Sturzes, vielleicht aber auch erst Marias Entsetzensschrei oder ihr darauffolgendes Lachen, hatte einen kleinen, drahthaarigen Hund, der neben einem Stapel Reusen zusammengerollt schlief, aus seinen Träumen gerissen. Der Hund, sein struppiges Fell war dem Pelz des Faultiers auf eine Art ähnlich, als bestünde zwischen den beiden eine enge, ungeklärte Verwandtschaft, sprang auf den vom Himmel gefallenen Eindringling zu, nahm die vier Stufen zur Veranda mit einem einzigen Satz und hatte dann Mühe, vor dem langsam, so rätselhaft langsam Flüchtenden zum Stehen zu kommen.
Bellend, ja geradezu
Weitere Kostenlose Bücher