Atlas eines ängstlichen Mannes
brüllend vor Wut oder Empörung, begann er das Faultier zu umspringen, hielt dabei aber stets einen Sicherheitsabstand von der Länge seines eigenen Körpers ein. Denn obwohl ausschließlich Pflanzenfresser und von einer scheinbar unerschütterlichen, schläfrigen Friedlichkeit, konnten Faultiere mit den Sicheln ihrer Krallen Angreifern – Jaguaren, Greifvögeln, Anakondas – tiefe Wunden schlagen. Was den kleinen Hund auf Distanz hielt, waren aber vermutlich nicht diese Krallen – um die Wirkung solcher Waffen zu kennen, war er möglicherweise noch zu jung –, sondern die unfaßbare Langsamkeit der Flucht und jeder Bewegung dieses Wesens. Flüchtende Feinde, entkommene Beute, besiegte Angreifer rannten doch, flogen doch auf, sprangen davon! Aber dieses graue Ding wäre selbst von einer Schnecke einzuholen gewesen und schien sich, taub oder blind oder beides, weder um Gebell noch um Marias Gelächter zu kümmern.
Außer sich vor Aufregung über dieses Rätsel und selbst von seiner lachenden Herrin nicht zu besänftigen, umsprang der Kläffer das Faultier, das jetzt die Verandatreppe erreichte, dort von Stufe zu Stufe mehr hinabplumpste als kroch und sich, endlich auf der roten Erde, in der seine Krallen wieder Halt fanden, vom Ozean ab- und dem Regenwald zuwandte. Durch die rasenden Kreise, die der Hund um das Tier beschrieb, wirkte jede seiner Bewegungen noch langsamer, fremder.
Wenn dieser Fremdling allerdings den Kopf hob und aus dem schwarzen Fellband um seine Augen seinen Verfolger wie durch eine Maske mit seinem Blick bloß streifte, wich der noch weiter zurück. Und als das Faultier nach einer unsicheren Bewegung auf die Seite zu fallen drohte und dabei einen Krallenarm unwillkürlich und haltsuchend nach dem Kläffer ausstreckte, hörte der plötzlich und wie zu Tode erschrocken zu bellen auf. Auch Maria schwieg jetzt. Wie vor dem Sturz waren nun wieder allein das Brandungstosen und der Wind in den Baumkronen zu hören, dann aber, als sollten sie einen Heimkehrer anfeuern oder begrüßen, ein jäh einsetzender Chor von Brüllaffen aus einer unbestimmbaren Ferne.
Der von Strömen von Insekten, Feuerameisen oder Rüsselkäfern, durchflossene Baum, aus dessen Zweigen das Faultier gefallen war, stand unsichtbar für den Flüchtenden auf der Schattenseite des Hauses. Also mußte der Fluchtweg zurück in den Schutz des Urwalds über ein Stück freies, von wilden Bohnen eingeschnürtes rotes Land führen. Die Schatten der Bäume am Waldrand wurden schon länger und wiesen die Richtung.
Diese tiefgrüne, rauschende Mauer aus Blättern, Stämmen, Gebüsch, die sich so nah, für den Kriechenden aber immer noch fern im Westen, erhob und aus der Gesänge, Schreie, Gezirpe, Pfiffe und Warnrufe drangen, Stimmen von Affen, Tukanen, Fröschen, Papageien, Zikaden, mehr und mehr Stimmen, manche verlockend, andere drohend, selbstvergessen, vielleicht sogar höhnisch oder liebestoll … diese Mauer war die Rettung, ja, das mußte die Rettung sein.
Von einem drahthaarigen, immer noch aufgeregten, nun aber stummen kleinen Hund begleitet, der gewiß bald kehrtmachen und sich ebenfalls dorthin zurückwenden würde, wo ihm alles vertraut war, jede Stimme, jeder Schatten, kroch das Faultier, ein Schwimmer im roten Staub, der rettenden Mauer entgegen.
Der Waranjäger
Ich sah eine Menschenmenge, die eine von Schlaglöchern übersäte Straße im ostjavanischen Distrikt Tirto-Moyo blockierte. Der schwache Verkehr auf dieser Piste aus schwarzem Lavasand schien sich seit längerem zu stauen, denn diesseits und jenseits der Menge standen Fahrzeuge mit abgestelltem Motor, Kleinlaster, Kleinwagen, ein Autobus; auch ein Wasserbüffelgespann und eine Limousine mit dunkel getönten Scheiben warteten in der Kolonne. Wagentüren standen offen, Fahrräder und Mopeds lehnten an Kautschukbäumen und Ölpalmen am Straßenrand. Alles, was in beiden Fahrtrichtungen eben noch Staubfahnen hinter sich hergezogen hatte, stand nun still. Fahrer und Passagiere hatten sich zu einer seltsam ruhigen, wie in Andacht versunkenen Menge versammelt, aus der nur das Schreien eines Kindes zu hören war.
Ich hatte am Vortag einen Versuch, den
Mahameru
, Javas höchsten Berg, einen knapp dreitausendsiebenhundert Meter hohen Stratovulkan, zu besteigen, bei strömendem Regen abgebrochen und war auf dem Weg an die Küste bei Lumajang, um dort auf eine vorhergesagte Periode stabileren Wetters zu warten, konnte nun aber mein geliehenes Motorrad auch bloß im
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