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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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auf – ja begann, als der Plantagenarbeiter das Spiel noch einmal und noch einmal wiederholte, zu lachen und schien irgendwann tatsächlich im Schnittpunkt aller Blickrichtungen zu
schweben
 – eine kindliche Gottheit, Sinnbild einer der versammelten Menge unerreichbaren Unversehrtheit, Unverwundbarkeit, ja Unsterblichkeit.
    Und plötzlich streckten sich auch andere Arme nach der Tochter des Jägers aus und wollten sie halten und wiegen, als ob dadurch etwas von ihrer Unbeschwertheit und Kraft auf jeden übergehen könnte, der sie berührte – und so begann das Mädchen den Schauplatz des Unglücks von Arm zu Arm zu umkreisen, lachte manchmal, weinte nicht wieder. Und über der Heiterkeit dieses Schauspiels bemerkten wohl nur wenige der Versammelten, daß auch der blutende Jäger, langsam, wie zu Tode erschöpft, einen Arm nach dem Kind ausstreckte, während die gefesselte Echse, aus deren Maul nun kein Blut mehr tropfte, ihre Augen schloß.

Sturmschaden
    Ich sah zwei schlanke Arme, die sich nach einer Wäscheleine streckten, um ein weißes Hemd zum Trocknen aufzuhängen. Im Halbdunkel des Dachbodens, in dem bereits drei mit Weißwäsche behängte Leinen ausgespannt waren, schwebten nasse Hemden, Leintücher und Kissenbezüge wie eine in Reih und Glied erschienene Abordnung von Gespenstern. Im Geheul des Windes, der draußen Zweige von den Obstbäumen riß und Dachsparren bedrohlich knirschen ließ, hätte mich vielleicht wieder einmal die Angst vor der Dunkelheit und ihren Schemen erfaßt, wären die schlanken Arme nicht die meiner Mutter gewesen.
    Daß ich sie hinauf in das Dachbodenreich, das einmal als Drohung, dann wieder als Traumland über allen Zimmern unserer Wohnung lag, begleiten und ihr nun Stück für Stück nasser Wäsche aus einem großen Weidenkorb reichen durfte, war eine Auszeichnung. Denn die Truhen und Kisten, das mit Decken verhängte Mobiliar und alles Gerümpel, das hier oben, wie zum planmäßigen Vergessen bestimmt, verstaubte, war Eigentum verschiedener
Parteien
und mußte deshalb vor der Neugier oder dem Spieldrang von Kindern des Hauses geschützt werden. Der Dachboden mit seinen Verlockungen und seiner endlosen Dunkelheit war ein verbotener Ort und legal nur in Begleitung von Erwachsenen zu betreten.
    Dienstag, es muß ein Dienstag gewesen sein. Dienstag war
Weißwäschetag
im Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Lehrerheim des oberösterreichischen Voralpendorfes Roitham. Der Tag war regnerisch, und obwohl der Wind, der an Stärke von Stunde zu Stunde zugenommen hatte, aus Süden heranstürmte, war es kalt. Seltsam, daß es ausgerechnet an diesem Ort des Zwielichts und der Dunkelheit plötzlich das Tageslicht sein sollte, eine jäh aufbrechende und dann alles überflutende Helligkeit, die mir von allen folgenden Ereignissen am meisten angst machte.
    Meine Mutter streckte ihre Arme nach der Wäscheleine aus, aber diese Leine schien sich plötzlich samt der mit hölzernen Klammern daran befestigten Wäschelast vor ihr zurückzuziehen, hob! sich wie ein Vorhang, der nichts enthüllte als die Dunkelheit. Unwillkürlich streckte meine Mutter sich auf Zehenspitzen nach der Leine und griff am Ende doch ins Leere. Und die Wäsche, die eben noch reglos, wie gefroren in dieser an Zugluft armen Düsternis gehangen hatte, geriet unerreichbar hoch oben plötzlich in Bewegung, flatterte, ja knallte in Windstößen, die auch mich erfaßten. Und dann wurde es schlagartig hell, taghell.
    Lauf. Lauf! Ich hatte in dem hereinbrechenden Getöse die Schreie meiner Mutter kaum verstanden, als ich ihre Hand spürte, die so heftig nach der meinen griff und sie umfaßte, daß ich gestürzt wäre, hätte sie mich nicht im Laufen wieder hochgezogen. In der tosenden Helligkeit, in der es jetzt auch noch zu hageln begann, wurde ich zum Schacht der Dachbodentreppe und dort die Stufen hinabgezerrt, während der Südsturm den riesigen Dachstuhl weiter und weiter hochhob, donnernd aufklappte und dann in den Hof zwischen Schule und Lehrerheim hinabschleuderte. Balken flogen scheinbar schwerelos durch die Luft, Kisten, Truhen, Dachziegel wie Laub. Dazwischen wirbelten Weißwäschegespenster.
    Ich erinnere mich, daß mein erster Gedanke auf dem Weg zur Treppe und die Treppe hinab nicht der Angst um mein Leben oder das Leben meiner Mutter galt – ich war damals noch unsterblich, unsterblich auch meine Mutter, und der Tod etwas, das grundsätzlich andere Menschen betraf –, sondern daß mir plötzlich bewußt wurde, daß

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