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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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ein Sturm, der das Dach vom größten Haus des Dorfes reißen konnte, auch meinen geheimsten Ort freilegen, ja zerstören würde – eine Kammer, einen in den Dachstuhl gezimmerten Verschlag, der als
Eigentum der Gemeinde
beschildert, mit einer blechbeschlagenen Holztür versehen und zwei eisernen Riegeln und Vorhängeschlössern gesichert war. Die Kammer war offensichtlich sowohl von den Bewohnern des Jubiläums-Lehrerheimes als auch vom Rest der Gemeinde vergessen worden, denn mein jüngerer Bruder und ich waren die einzigen, die sie in aller Heimlichkeit und immer auf der Hut vor Gespenstern und anderen Kreaturen der Dunkelheit besuchten: Sie lag in einem nur über die Hürden mehrerer Stützbalken zugänglichen Winkel und dort ohne einen einzigen beruhigenden Lichtstreifen aus einer Dachluke am Rand der Finsternis.
    Wer nicht größer als ein Kind war, die Sparren hochkletterte und sich dann durch einen schmalen, zwischen Dachschräge und dem Türrahmen der Kammer freigebliebenen Spalt zwängte, blickte im Schein einer Taschenlampe auf ein Märchenreich, eine magische Ritterwelt, in die er auf der anderen Seite der Tür absteigen konnte: Ein ganzer Strauß Fahnen und Lanzen lehnte da an einer rußigen Kaminwand, zwei Schwerter in schwarzen, matt schimmernden Scheiden hingen an langen, in die Balken geschlagenen Eisenhaken, und an einem lebensgroßen, goldenen Adler mit geöffneten Schwingen lehnte das Bild eines Ritters in voller Rüstung; ein Ritter!
    Ein Schatz. Ich hatte ihn gemeinsam mit meinem Bruder auf einer unserer verbotenen Expeditionen in das finstere Reich über unserer Wohnung entdeckt und seither selbst vor Spielgefährten als unaussprechliches Geheimnis gehütet. Aber als an diesem Weißwäschetag der Sturm abflaute, lag plötzlich alles, was der Verschlag geborgen hatte, unter freiem Himmel zwischen zerschlagenen Ziegeln, Trümmern und Splittern des Daches im Schulhof. Und ich sollte im Verlauf der Aufräumarbeiten, die ich vom Küchenfenster verfolgen durfte, zum erstenmal die Namen der für immer verlorenen Kostbarkeiten hören: Das Zeichen, das die rot-weißen Fahnen trugen, hieß
Hakenkreuz
, der goldene Adler auf seinem Sockel war ein
Reichsadler
aus Gips, die Lanzen waren
Standarten
einer
Wehrmacht
und die kurzen Schwerter in ihren schwarzen Scheiden
Zierdolche
der
SS
. Der Ritter in der silbernen Rüstung hieß
Adolf Hitler.
    Die Zimmerleute, die den Dachboden nach dem Sturm mit alten Tarnplanen abdeckten und dann mit dem Bau eines neuen Dachstuhls begannen, setzten nach wochenlangem Hämmern, Sägen und Hacken über unseren Köpfen schließlich an jener Leerstelle, an der einmal ein Schatz in der Finsternis schimmerte, eine Luke in die Dachschräge, aus der bei klarem Wetter blaue Bergketten in der Ferne zu sehen waren. Auf den in diesen Tagen im
Heimatkunde
unterricht vor der Tafel entrollten Landkarten waren in langgezogenen, zwischen Gipfeln ausgespannten Schriftbändern zwei Namen zu lesen, die alle diese Grate, Abgründe und Höhenzüge in der Ferne zusammenfaßten und so das Panorama benannten, das auch aus einer Luke der verbotenen Kammer zu sehen gewesen wäre: Das Gebirge im Südwesten hieß
Höllengebirge
und
Totes Gebirge
das im Südosten.

Ein Weltuntergang
    Ich sah den blauen Turm der
Bank of China
in Flammen. Er ragte wie der Zeiger einer Feueruhr aus einer rotglühenden Wolke, neigte sich dann dem Meer entgegen, brach auseinander und versank lodernd in der Flut. Nach der Bank of China stürzte auch die von Rauch und tropischem Nebel umwehte Festung der
Hong Kong & Shanghai Banking Corporation
unter einem Funkenschwarm ins Südchinesische Meer. Und schon sprang das Feuer auf die
Standard Chartered Bank
über, auf die
Citibank
, das
Hopewell Centre
, den
Wan Chai Tower
und schließlich selbst auf den seidig schimmernden Wolkenkratzer der
Bank of America
. Hongkong brannte. Ein Wahrzeichen der Insel nach dem anderen ging in Flammen auf und fuhr brennend in die Tiefe der Joss House Bay. Es war der Morgen des dreiundzwanzigsten Tages im dritten Mondmonat nach dem chinesischen Kalender, ein heißer Tag Ende April. Es war der Festtag der Himmelskönigin Tin Hau, Göttin des Südchinesischen Meeres.
    Ich saß an diesem Morgen mit einem Freund beim Frühstück auf dem Achterdeck einer Dschunke, deren rote Segel schlaff in den Rauchschwaden schlugen, während die lodernde Skyline Hongkongs in den treibenden Nebelbänken erschien und wieder verschwand. Selbst aus der geringen

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