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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Schatten eines mit Jackfruits beladenen Pick-up abstellen und mich der Menge anschließen.
    Es waren etwa achtzig oder neunzig Menschen, die den Ort eines Unfalls umdrängten. Auf dem von Zuschauern, Helfern oder Zeugen kreisrund eingefaßten Schauplatz lag ein Mann mit offenen Augen, der aus einer Kopfwunde und an beiden Händen blutete. Zwei Helfer saßen neben ihm und drückten ihn jedesmal sachte zu Boden, wenn er sich mit einem Schmerzenslaut aufrichten wollte. Nicht bewegen! Er durfte sich nicht bewegen und auch nicht bewegt werden: Sein Rückgrat, übersetzte mir ein von Brand- oder Operationsnarben gezeichneter Mann in der Uniform einer Telefongesellschaft, der mit einem Jeep ins Tengger-Massiv unterwegs war, sein Rückgrat sei verletzt, vielleicht gebrochen, aber Hilfe bereits unterwegs.
    Vor dem Verletzten stand ein nur mit einem Hüfttuch bekleideter Mann, ein Plantagenarbeiter, der an Fischgräten erinnernde Rillen in die Rinden der Kautschukbäume am Straßenrand geschnitten und Näpfe zum Auffangen der Latexmilch an die Stämme gebunden hatte und so zum Zeugen des Unfalls geworden war. Er wiegte ein schreiendes, vielleicht einjähriges, weiß gekleidetes Mädchen auf seinen Armen und bewegte die Füße und Hände des Kindes wie die einer Puppe auf und ab, als wollte er die Funktionsfähigkeit und Unversehrtheit jedes einzelnen Gelenks prüfen und sie dem bewegungsunfähigen Verletzten vorführen, der seine Augen nicht von dem Kind wandte.
    In der Mitte des Schauplatzes, dort aber kaum beachtet, lag das Unfallfahrzeug, ein Moped, auf dessen Gepäckträger eine große, etwa einen Meter lange, schwarz- gelb gesprenkelte Echse mit Schnüren und Draht festgebunden war – ein blutender Waran. Die Wunden am Kopf und an den muskulösen Beinen der Echse schienen allerdings nicht bloß vom Unfall, sondern von der Drahtfesselung und vor allem der vorangegangenen Jagd herzurühren. Daß sie lebte, war allein an der Bewegung ihrer Augen zu sehen. Die schwarze Zunge hing ihr seitlich aus dem offenen Maul, aus dem Blut tropfte. Das Tier war wohl mit der üblichen Methode – einem Frosch als Köder an einem Widerhaken, der Lippen und Rachen der an der Fangschnur zerrenden Beute zerriß – gefangen worden und zur Schlachtung bestimmt. Echsenleder und -fleisch waren kostbar.
    Der Waranjäger war mit seiner Tochter – dem in den Armen des Zeugen schreienden Mädchen –, die er sich mit einem Tragtuch auf den Rücken gebunden hatte, auf dem Weg zum Markt gewesen, als ihn ein dürrer Ast, eine Schlange oder bloß ein Schlagloch?, in der Menge gab es verschiedene Ansichten darüber, zu einem Ausweichmanöver gezwungen und zu Sturz gebracht hatte. Der Plantagenarbeiter sagte, eine Schlange, es konnte nur die Schlange gewesen sein, eine rote Palmenotter. Er habe sie mit einem Stock erschlagen wollen, sie sei aber ins Gras und dann wohl auf die Straße, auf den Weg des Gestürzten, geflüchtet, ein böser Geist, ein Dämon.
    In welcher Ferne voneinander, in welchem dicht besiedelten ostjavanischen Landstrich oder welcher unzugänglichen Wildnis der Waran und sein Jäger bis zu diesem Tag auch gelebt hatten – es hatte vielleicht tatsächlich der Macht eines Dämons bedurft, um die beiden in jenes fast verwandtschaftliche Nahverhältnis zu zwingen, in dem sie nun gefangen waren. Denn auch wenn der Unfall für den blutenden Waran nur ein Aufschub, ein Halt auf seinem Weg zur Schlachtung war, schien er durch seine Verletzungen, seine Fesselung und Bewegungslosigkeit plötzlich auf seltsame Art mit seinem blutenden Jäger verbunden, der nun ebenso ausgeliefert wie er und ohne Bewegungsfreiheit war. Aber während der Jäger, wenn auch kraftlos und unter Schmerzenslauten, sich noch erheben, gehen, vielleicht flüchten wollte, schien der Waran sich in die Aussichtslosigkeit aller Fluchtversuche gefügt zu haben und behielt reglos allein das weinende Kind im Auge, das einzige, was sich in seinem Blickfeld auffällig bewegte, bewegt wurde. Auch der Jäger sah seine Tochter immer noch unverwandt an, während man ihm einen Kopfverband anzulegen versuchte.
    Seine Augen, die Augen der Zuschauer, die Augen des Warans – alle Blicke waren auf das unversehrte Mädchen gerichtet, als der Plantagenarbeiter es plötzlich hoch über seinen Kopf hob – und fallen ließ und gleich wieder fing und es so einen Herzschlag lang zum Fliegen brachte. Das Mädchen hörte in diesem Fallen und Aufgefangenwerden fast augenblicklich zu weinen

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