Atlas eines ängstlichen Mannes
uns die Dichterinnen an einen zurückliegenden Hafen unserer Seefahrt, die uns über die Mündung des großen Perlflusses bis ans chinesische Festland geführt hatte, noch der Name
Macau
enthalte das kantonesische
A Ma Gau
, den Beinamen Tin Haus, und bedeute soviel wie
Die Bucht der A Ma
. Macau sei der Schauplatz des ersten von vielen Wundern Tin Haus gewesen, ein Ort der Rettung.
In den Tagen bevor wir an Bord gegangen waren, hatte ich in den Gesprächspausen der Konferenz mit meinem Freund die Märkte am Taifunschutzhafen in Kowloon durchstreift und an Buden und Marktständen Rosenholzbleistifte gekauft, Notizbücher aus Reispapier, Schreibzeug in Kampferholzkästchen … Wir hatten in der Jervois Street von Sheung Wan, der Straße der Schlangenhändler, gesehen, wie eine jener Kobras geschlachtet wurde, die in Hongkong jährlich zu Zehntausenden als wärmespendendes Schlangenfleisch verkauft werden. Und von einem Apotheker in Yau Ma Tei hatten wir uns die heilende Wirkung von gedörrten Hornissen und gerösteten Tigerknochen erklären lassen, von zerstoßenen Perlen, geriebenem Nashorn und auch der wunderbarsten aller Medizinen: gemahlene, mit Morgentau vermischte Jade als Arznei gegen die Sterblichkeit.
Aber erst jetzt, während im stillen Wasser der Joss House Bay eine papierene Welt als brennendes Geschenk an ein Mädchen des zehnten Jahrhunderts unterging, verlor vieles, was wir in diesen vergangenen Tagen gesagt hatten, gesehen hatten, gekauft, getan und gesammelt, an Gewicht und Bedeutung, so, als hätte uns erst diese Dschunkenfahrt den wahren und einzigen Zweck unserer Reise enthüllt:
Wir saßen um unseren Bambustisch auf dem Achterdeck und sahen, wie lodernde Wolkenkratzer, Paläste aus Seidenpapier, berstende Festungen der Macht und eines zum Himmel schreienden Reichtums verrauchten und versanken, während unsere Dschunke unversehrt über den Tiefen schwebte. Und wir durften diesen Weltuntergang als bloßes Opferspiel mit dem Feuer, vielleicht auch als eine Erinnerung an die Zukunft verfolgen, ohne dabei selbst unterzugehen, weil Tin Hau, eine Unsterbliche, ihre Mädchenhände schützend über uns hielt.
Der Hirtenhund
Ich sah einen Hirtenhund, der seine Herde, etwa dreißig Ziegen, in den überwucherten Ruinen der lykischen Bergstadt Pinara zurückließ und kläffend auf jene ungeheure Felswand zusprang, die im Westen der Stadt in den Abendhimmel ragte. Sein Gebell schlug aus einer Stille zurück, die seit mehr als tausend Jahren über den Ruinenfeldern lag. Pinara war nach vielen Jahrhunderten einer glanzvollen Existenz von einem Erdbeben zerstört und von seinen Bewohnern aufgegeben worden und zu einer allein von ihrer Entlegenheit geschützten Ruinenstadt in der zerklüfteten Wildnis des westlichen Taurusgebirges verfallen. Nur eine schmale, steinige Straße führte aus den fruchtbaren Tälern von Xanthos in der türkischen Provinz Antalya in ihre Höhen.
Die überhängende Felswand, auf die der Schäferhund zustürmte, stand wie ein rissiger, Hunderte Meter hoher Damm gegen eine herannahende Gewitterfront und war über ihre gesamte Ausdehnung von den schwarzen Öffnungen unzähliger Felsengräber durchbrochen. In diesen aus dem massiven Stein gemeißelten Totenwohnungen, die in unregelmäßigen Reihen übereinanderlagen, hatte die ewige Ruhe allerdings nur so lange gedauert, wie die Lebenden ihre Toten verteidigen konnten. Nach dem Ablauf dieser Ewigkeit waren die Grabkammern geplündert und Turmfalken zu Nistplätzen geworden. Wo einmal kunstvoll behauene, mit Reliefs geschmückte und beschriebene Türen aus Stein die Welt der Lebenden von jener der Toten getrennt hatten, gähnten nun von der Gier geschlagene Öffnungen, schwarze Höhlenportale, bis in schwindelnde Höhen.
Pinara war vor zweieinhalbtausend Jahren eine der sechs mächtigsten Städte Lykiens gewesen, eines geheimnisvollen Reiches im Schatten des Taurusgebirges. Nach den Gesängen Homers hatten Helden aus Pinara im Trojanischen Krieg vergeblich gegen Odysseus und Achill gekämpft.
Ich hörte das Schlagen der Zeltbahnen des Heerlagers vor Troja im Wind, knallende Fahnen, als die ersten Böen des Gewitters sich in den Kronen von Schirmföhren fingen, die zwischen mächtigen, umgestürzten Säulen aufragten. Ich hörte den Wind im Totengerüst, auf dem die Bahre eines von Odysseus erschlagenen lykischen Kriegers ruhte.
Dann rief mich der Hirtenhund in die Gegenwart zurück. Sein Gebell war lauter als der Lärm meiner
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