Atlas eines ängstlichen Mannes
Entfernung, aus der wir das Feuer von Turm zu Turm springen sahen, war schwer zu erkennen, daß die brennenden Wolkenkratzer nur Modelle aus Blattholz und Seidenpapier waren, Nachbildungen in den Farben und im Stahlglanz der Hunderte Meter hohen Originale – eine papierene, kaum zwei Meter hohe Bank of China, auch die Bank of America nur mannshoch und aus Papier und auf dem Wasser schaukelnd wie alle anderen Türme und Paläste der Hochfinanz, der Politik und des Handels – und alles in Flammen, flackerndes Treibgut, das als Brandopfer eine Meeresgöttin gnädig stimmen sollte.
Tin Hau, Königin des taoistischen Himmels: Ihr zu Ehren lagen wir an diesem Morgen im Verband einer Flotte von Dschunken, Flößen und Ausflugsdampfern in der Joss House Bay vor Anker. Auf einer Anhöhe über dieser entlegenen Bucht der
New Territories
östlich von Hongkong stand ein siebenhundert Jahre alter Tempel der Meeresgöttin in der Sonne, eine rote Holzpagode, scheinbar schwebend über den Nebelbänken und den Fliegenschwärmen, die von geräucherten Schweinehälften, süßem Brot, Honigschalen und anderen über den Strand der Bucht verstreuten Opfergaben aufschwirrten. Zu den Paukenschlägen und dem Gerassel eines rot gekleideten Orchesters flatterten Wolken von goldbedruckten roten Zetteln von den Decks eines Tragflügelbootes – Totengeld, das von den Geistern der Verstorbenen Frieden erkaufen sollte –, und wenn wieder ein papierener Wolkenkratzer in Flammen aufging, brandeten Applaus und Jubel über das glatte Wasser der Bucht. In dicht aufeinanderfolgenden Prozessionen wateten Schiffsbesatzungen an den Strand oder landeten in überfüllten Beibooten, um ihre Opfergaben im Sand zu hinterlegen, unter seidenen Fahnen zum Tempel hinaufzuziehen, im Dämmerlicht des Heiligtums Räucherspiralen zu entzünden und sich vor der umflorten Statue der Göttin zu verneigen.
Während ich mit meinem Freund bei Tee und Reisgebäck darauf wartete, daß die Besatzung unserer Dschunke zum Opfergang an den Strand gerufen würde, erzählten zwei Dichterinnen aus Chung Wan, dem Central District Hongkongs, an unserem Frühstückstisch die Geschichte der Göttin. Dichterinnen! Auf den Fahnen und Transparenten der Nachbarschiffe standen die Namen großer Banken und börsennotierter Handelsgesellschaften, an Bord unserer Dschunke befanden sich dagegen nur Dichterinnen und Dichter, Erzähler, Übersetzer auf einer Fahrt durch das Insellabyrinth im Mündungsdelta des Perlflusses: Lamma, Lantau, Cheung Chau, Peng Chau, Tung Lung, Macau …
Unsere Seereise sollte zum festlichen Abschluß eines Symposions werden, dessentwegen wir nach Hongkong gekommen waren, eines Gesprächs zwischen europäischen Dichtern und Erzählern und den Dichtern beider Chinas. Dieser Frühling war ein Frühling der Hoffnungen gewesen. Ein Dichter aus Peking hatte uns von Zehntausenden Menschen berichtet, die sich nach dem Tod des großen Reformers Hu Yaobang in diesen Tagen auf dem Tienanmen-Platz versammelt hätten und in Sprechchören und auf Transparenten ein neues China forderten, die Entmachtung des Oligarchen Deng Xiaoping forderten, Versammlungsfreiheit forderten, Redefreiheit, Gedankenfreiheit. Kein Knüppelhieb der Polizei, kein Schuß, hatte der Gast aus Peking geschwärmt, sei bisher gefallen, bis in die Nacht seien die Sprechchöre und Gesänge auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu hören … Wie gesagt, es war ein Frühling der Hoffnungen gewesen. Es waren die Festtage von Tin Hau, der Schutzpatronin aller, die den Untergang zu fürchten hatten.
Tin Hau, erzählten die Dichterinnen aus Chung Wan in einer melodischen Wechselrede, sei ein Fischermädchen gewesen, das im zehnten Jahrhundert, abendländischer Zeitrechnung, gelebt und während eines Taifuns auf hoher See ein Schiff und seine Besatzung vor dem Untergang bewahrt und sicher an einen Strand östlich des heutigen Macau geführt habe:
Tin Hau habe den Wellen befohlen, ihre Kronen und alle anderen Zeichen der Macht abzulegen und sich zu besänftigen. Tin Hau ließ Nebelbänke verfliegen und brachte das Holz eines Schiffsmastes zum Blühen und wurde schließlich, im dreizehnten Jahrhundert, lange nach ihrem Aufstieg in die Höhen der Unsterblichkeit, vom Mongolenherrscher Kublai Khan, der damals ganz China in seiner Gewalt hatte, in einem feierlichen Prozeß zur Königin des Himmels ausgerufen und dem Jadekaiser zur Seite gestellt, dem Allmächtigen des Taoismus.
Noch der Name Macau, erinnerten
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