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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Geisterarmee. Kein Pfiff, kein Ruf eines Hirten war zu hören, und so stürmte er durch das Dickicht, das über einem versunkenen Tempel, einem versunkenen Marktplatz und labyrinthischen Grundmauern wucherte, zur Felswand der Toten, als habe er dort oben eine Bedrohung für seine Herde entdeckt – und zeigte mir damit den direktesten Weg aus den Ruinenfeldern zu den Grabkammern.
    Ich hatte schon beim Betreten der Stadt nach einem solchen Weg gesucht, folgte dem Hund aber nun gegen einen Impuls zur Flucht. Lauerte dort oben tatsächlich eine Gefahr? Zögernd löste ich mich aus dem Schutz der Wildnis und trat auf ein freies Geröllfeld hinaus, das von den Grabkammern am Wandfuß herabfloß. Wie ein sinkendes steinernes Schiff ragte ein Sarkophag aus dem Geröllstrom. Am Ende des Stroms sah ich den Hund vor einer aufgebrochenen Kammer, vor einem offenen schwarzen Maul. Die Vorderpfoten gegen die gemeißelte Schwelle gestemmt, bellte, ja brüllte er in das Dunkel vor ihm, als habe er einen Feind gestellt, den er nicht anzugreifen wagte.
    Die Lykier hatten ihre Toten stets hoch über den Lebenden bestattet, an sonnen- und mondhellen Orten mit weitem Blick über die Stadt, über das Land, über das Meer – entweder in mächtigen, auf monolithischen Blöcken und Pfeilern ruhenden Sarkophagen oder in kunstvollen Felsengräbern, vor denen sich die Welt der Lebenden noch einmal in aller Pracht ausbreiten sollte als eine Verheißung, daß es auch für die Toten eine diesem Panorama ähnliche Zukunft gab – in Kammern wie jener, an deren Eingang der Hirtenhund jetzt in eine Art rasender Starre verfallen war: Er bellte, heulte, ohne sich zu bewegen. Seine Herde graste ruhig in der Tiefe, fraß Büschel haarfeinen Grases, das zwischen den Resten steinerner Bollwerke wuchs, die Generationen von Feinden widerstanden hatten, nicht aber dem Lauf der Zeit. Einige Ziegen erhoben sich vor diesen Resten auf die Hinterhufe, standen dann, aufrecht fressend, gegen geborstene Wehrmauern gestützt wie vom Zorn der Götter in Tiere verwandelte Belagerer und sprangen dann der weiterziehenden Herde nach, die sich allmählich aus der Höhe der Akropolis in die Unterstadt bewegte, vorbei an den Königsgräbern im Zentrum der Stadt, vorbei an den Resten der Agora, des Odeons und weiter bis zum großen Theater, auf dessen weitläufigen Sitzreihen nur noch Dornengestrüpp hockte und auf dessen Bühne als einzige Stimme die eines rasenden Hirtenhundes zu hören war.
    Die ersten schweren Tropfen eines Gewitterregens begannen das scharfkantige Geröll zu sprenkeln, über das ich dem Hund entgegenstieg. Erst dieses Wassermuster ließ mich den Regen auch spüren. Obwohl das Gewitter, dessen Donnerschläge immer noch dumpf und fern klangen, eine für den frühsommerlichen Abend eisige Luft die Wand herabstreichen ließ, floß mir der Schweiß über Stirn und Wangen. Ich wollte umkehren, ich wollte umkehren – und stieg und stolperte doch höher und höher.
    Die Wand der Toten ragte nun finster vor mir auf, die höchsten Reihen der Grabkammern verschwanden bereits in Nebel- und Regenschleiern, aber als ich innehielt, um Atem zu schöpfen, und mich umwandte, sah ich immer noch jene helle, tröstliche Welt, die für die Augen der Toten bestimmt gewesen war: die Stadt, die schöne Stadt, die in kühnen Terrassen gegen die Täler von Xanthos abfiel, dahinter tiefgrünes bewaldetes Hügelland, das sich im Osten erneut zu fernen Gebirgszügen aufschwang, deren schimmernde, von der Gewitterfront noch unberührte Firnfelder das Licht der Abendsonne in das Schattenreich von Pinara spiegelten.
    Mit dem Bild Lykiens als einem friedvollen Paradies in meinem Rücken erreichte ich endlich den Hund, die aufgebrochene Grabkammer. Er registrierte meine Gegenwart mit einem schnellen Seitenblick und hörte plötzlich zu bellen auf, so als habe er seine Pflicht erfüllt und einem Wesen, irgendeinem todesfürchtigen und deshalb zuständigen Wesen der Menschenwelt, die Gefahr gezeigt und dürfte nun wieder zu seiner Herde zurück.
    Komm zurück! rief ich ihm nach, bleib doch!, hierher!, als er den Geröllstrom hinabsprang, dem schönen Land, der Welt der Lebenden entgegen. Ich wollte hier oben nicht allein zurückbleiben und blieb doch stehen vor der Schwelle der Grabkammer. Graues Regenlicht fiel durch die Öffnung auf drei steinerne Bahren, auf denen Tote ruhen sollten, bis ihnen ein namenloser Gott befehlen würde, sich zu erheben und, gesegnet mit den ihnen zu

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