Atlas eines ängstlichen Mannes
Rinder und eines weiteren Pferdes vor einem mit Stricken zugebundenen Gatter.
Ich war mit Weidetieren seit meiner Kindheit vertraut, mußte aber doch einen Fluchtimpuls unterdrücken, als plötzlich ein Dutzend oder mehr der in der Caldera verstreuten Rinder auf mich zustürmten. Die knochendürren Tiere glichen einer Gespensterherde: Schwarz gefleckt von Fliegenschwärmen, die auf ihren Geschwüren und blutig gescheuerten, zum Zerreißen über die Knochen gespannten Fellen zu kleben schienen, umdrängten sie mich schließlich brüllend. Sie hatten mich am Wassertrog entdeckt, hatten mich in der Nähe eines Bassins entdeckt, das nur Steine, Sand und Vogelkot enthielt, und ich verstand endlich, daß die Tiere vor Durst brüllten und in mir einen Retter sahen.
Die Herde folgte mir, als ich mich auf die Suche nach einer intakten Leitung machte. Ich fand zwei Wasserhähne, die sich zwar öffnen ließen, aber nur am Ende leerer Rohre saßen, fand keinen Brunnen, keine Zisterne, fand nirgendwo Wasser, nirgendwo Menschen. Die Eingangstür des Hauses war mit Ketten und Schlössern verhängt. Eine Tür zum Schuppen schlug im Wind. Der Schuppen war leer.
Insgesamt fünf verendete Tiere in verschiedenen Stadien der Verwesung – drei Kühe und zwei Pferde – zählte ich schließlich im nahen Umkreis des Gehöfts. Ein böiger Südwind, der dichte Nebelschwaden vom Kraterrand über die vulkanischen Weiden trieb, vermischte den Verwesungsgestank mit dem Duft reifer Guaven, die, mit dem Kot verwilderter Pferde über die ganze Insel verbreitet, bereits viele Weiden Rapa Nuis überwucherten. Es gab kein Wasser. Das Vieh konnte den Regen von den schwarzen Felsen lecken oder aus den rasch versickernden Pfützen trinken, wenn ein Wolkenbruch die Küste verfinsterte, aber ihren Durst konnte eine Herde so nicht löschen.
Natürlich dachte ich daran, die Stricke am Gatter zu lösen und das Vieh freizulassen, aber weil auch jenseits der Zäune und Mauern nur wasserloses Land lag, zog ich einen bereits gelösten Knoten wieder zu. Ich konnte hier nicht helfen, sondern nur der in Anakena wartenden Taxifahrerin – und mit ihrer Hilfe irgendeiner Behörde in Hanga Roa – vom Elend der Herde auf diesem verlassenen Gehöft erzählen. Ihrem Besitzer mußte etwas zugestoßen sein.
Als ich neben dem Gatter über die mannshohe Mauer kletterte und meinen Weg fortsetzen wollte, sah ich plötzlich die Köpfe von Dämonen oder Göttern, sah steinerne Hände, Krallen, Vogelschwingen: In diese Trockensteinmauer waren zahllose Bruchstücke von Skulpturen eingesetzt und zwei große Ecksteine auch mit Rongorongo-Zeichen bemalt worden – Symbolen der einzigen in der Südsee entstandenen, seit dem Untergang ihrer Erfinder aber nicht mehr lesbaren Schrift. Eine zerbrochene Lavakugel auf der Mauerkrone zeigte das Relief einer hockenden Gestalt mit dem Unterkörper eines Mannes und dem Kopf und Schnabel eines Fregattvogels – eine Darstellung jenes
Vogelmannes
, der die Geschichte der Osterinsel über Jahrhunderte beherrscht hatte.
Ich kannte Bilder von Vogelmännern, von Rongorongo-Schriftzeichen und kunstvoll behauenen Fundamentsteinen fensterloser, ovaler Schilfhäuser, die umgekippten Booten glichen, von meinen abendlichen Lesestunden in der Bordbibliothek jenes Schiffes, mit dem ich vor zwei Tagen angekommen war. Drei von den rätselhaften Schriftzeichen, die ich aus einem Bildband in mein Notizbuch übertragen hatte, fand ich auf den Ecksteinen in der Mauer wieder, daneben aber auch Fragmente von geschwungenen Basaltfundamenten:
Als hätte der verschollene Grundherr hier ausschließlich Bruchstücke aus der Geschichte seiner Ahnen verbaut, glich diese Mauer einem steinernen Archiv. Material dafür war im weiten Umkreis zu finden: Wer durch das baumlose Land zwischen erloschenen Vulkanen wanderte, mußte nicht lange nach Resten suchen. Schließlich hatten hier, wie es hieß, einmal mehr als fünfzehntausend Menschen gelebt, vielleicht sogar dreißigtausend. Nun waren es noch knapp viertausend. Und es hatte Zeiten gegeben, in denen hier weniger als zweihundert Menschen zwischen Ruinen, umgestürzten und enthaupteten Skulpturen und verlassenen Kultstätten nach Nahrung gesucht, um Nahrung gekämpft hatten.
Während das Schiff in den Ausläufern eines Sturmtiefs stampfte und ich meinen Bücherstapel auf dem Bibliothekstisch manchmal festhalten mußte, hatte ich auch von den vielen Namen gelesen, die Rapa Nui im Lauf der Jahrhunderte
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