Atlas eines ängstlichen Mannes
Füßen gestellten kostbaren Liebesgaben, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.
Ich sah an den aus dem Fels geschlagenen Bahren, an den aus dem Fels geschlagenen Nischen und Wänden und auch dem Boden, auf dem sie die ersten Schritte zurück aus dem Schattenreich tun sollten, die Spuren der Meißel von Steinmetzen, die wohl selber bereits seit Jahrtausenden ihrer Rückkehr ins Leben entgegenschliefen. Aber was immer den Schäferhund zur Raserei getrieben und ihn um seine Herde hatte fürchten lassen, konnte nicht für die Augen und nicht für die Ohren von Menschen bestimmt gewesen sein.
Von Regen und Schweiß überströmt stand ich vor der hohen, gemeißelten Schwelle und starrte gebannt, bewegungslos wie zuvor der Hirtenhund, ins Innere einer dämmrigen Totenwohnung. Der Boden, die Nischen, die steinernen Bahren waren trocken und leer.
Im Schatten des Vogelmannes
Ich sah ein Kreuz aus Neonröhren an der Küste jener Insel im Südpazifik, die von ihren Bewohnern
Rapa Nui
, von den meisten ihrer Besucher aber
Osterinsel
genannt wird. Wie das weithin sichtbare Zeichen einer Missionsstation oder einer Einsiedelei überragte das an Stangen geschraubte Kreuz ein verlassenes Gehöft, das in der Caldera eines vor Jahrtausenden erloschenen Vulkans lag. Der von Erosion und Tektonik zerrissene und zur Hälfte verfallene Krater glich einem schräg gestellten Kessel, dessen Inhalt – ein kleines, mit Wellblech gedecktes Wohnhaus, Ställe, ein Schuppen und vor allem: auf steinigen, schwarzen Weiden brüllende Rinder und bis zum Skelett abgemagerte Pferde – ins Meer gekippt werden sollte. Der untere Rand dieses Kessels lag so dicht an der Brandung, daß er immer wieder von Gischtflocken beschneit wurde, während sich der obere Kraterrand hoch über den Brechern in jagenden Nebelfetzen verlor.
Ich hatte dieses Gehöft am Nordkap der Insel nach einer stundenlangen Wanderung über Lavahänge und felsige Hochflächen erreicht und wollte von hier über einen weglosen Küstenstrich weiter zur Bucht von Anakena. Dort war nach einer der vielen auf der Insel erzählten Ursprungslegenden Hotu Matua, ein mythischer König und Gründervater des Volkes der Rapa Nui, in einem über die Wellenkämme fliegenden Katamaran gelandet, um hier die erste menschliche Zuflucht zu errichten. Vulkane hatten dieses Land aus der schwarzblauen Meerestiefe dem Himmel entgegengestemmt, aber erst Hotu Matua hatte das Land belebt: Zur Fracht seines Katamarans, hieß es, hätten Honigpalmschößlinge gehört, Papiermaulbeer- und Brotfruchtbäume, Yams, Süßkartoffeln und der geheiligte Toromirobaum. Zum Strand von Anakena, hieß es, führten die Wurzeln aller Stammbäume jener zehn oder zwölf Clans, die in ihrer Verehrung der Ahnen über Jahrhunderte an die tausend
Moais
geschaffen hatten – jene langnasigen, kolossalen Steinskulpturen, die, mit dem Rücken zum Meer auf gemauerten Zeremonialplattformen stehend, mit ihren Obsidianaugen niemals in die Weite, niemals gegen den Wasserhorizont, sondern stets nur ins Innere der Insel blickten. Und mit ihren Schultern aus Basalt oder Tuffstein hielten sie das Meer davon ab, über dem Land zusammenzuschlagen. In ihren stoischen Gesichtszügen spiegelte sich die Gleichmut, mit der die Toten die Ankunft der Nachgeborenen in ihrem Reich erwarteten, und ihre tatenlos an den Körper gelegten Hände zeigten, daß gegen den Lauf der Zeit, der die Welt der Lebenden mit jener der Ahnen verband, jede Auflehnung vergeblich war.
Mich sollte an dem von Clanführern, Königen und ihrem Gefolge längst wieder verlassenen und nur noch von augenlosen Steinmännern bewachten Strand von Anakena vor Einbruch der Dämmerung eine Taxifahrerin erwarten, eine Frau aus dem Volk der Rapa Nui, und mich über eine gewundene Küstenstraße zurückbringen nach Hanga Roa, dem einzigen noch bewohnten Ort der Insel.
Als ich mich dem Gehöft auf einem vom Vieh ausgetretenen Pfad näherte, trug mir ein Windstoß plötzlich einen solchen Verwesungsgestank zu, daß ich mir in aller Eile nur mein schweißgetränktes Stirnband vor Mund und Nase halten konnte: Vor einem umgekippten Wassertrog lag ein verendetes Pferd, in dessen Nüstern und Augenhöhlen Maden wimmelten. Auch den Bauch hatten Aasfresser bereits aufzureißen begonnen. Von den hervorquellenden Gedärmen sprang ein schillernder Schwarm Schmeißfliegen hoch und prasselte gleich wieder auf das Aas zurück. Kaum zwanzig Meter vom Wassertrog entfernt sah ich die Kadaver zweier
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