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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Falken.
    Die junge Frau hatte die von verschraubten Fenstern gerahmte Wildnis dort draußen als Ornithologin, mit Richtmikrophonen bewehrte Spaziergängerin und sogar als Marathonläuferin durchmessen, fragte in diesen Frühsommertagen aber nicht einmal mehr nach einem
Ausgangsschein
. Sie sprach nicht mehr.
    Daß dort draußen Nachtigallen nun auch tagsüber und stundenlang zu hören waren – schließlich mußten umworbene Artgenossen nicht nur im Dunkeln betört und Reviere auch bei Tageslicht mit Grenzgesängen behauptet werden –, daß Schwarzstörche aus den Auen die vielen Dächer des Krankenhauses überflogen, als wollten sie Schornsteine, Entlüftungsschächte und Parabolantennen auf ihre Tauglichkeit für den Nestbau prüfen, kümmerte die Frau am Feuer nicht mehr. Sie schwieg bereits seit elf Tagen.
    Aber jetzt hob sie plötzlich den Kopf. Horchte sie doch einer der vielen Tierstimmen nach, einem Lockgesang, einem Warnruf aus der Ferne? Gummiräder quietschten auf dem blanken Boden. Abendessenszeit.
    Ein weiß gekleideter Stationsgehilfe, ein Philippine, schob einen Wagen aus matt schimmerndem Nirosta-Stahl, hinter dem er nahezu verschwand, durch den Flur. Der Essensbringer kam aus Tubuan, einer an der Celebessee gelegenen Hafenstadt der philippinischen Insel Mindanao und arbeitete seit drei Jahren in dieser Abteilung, ohne seine Familie, deren Bild er stets bei sich trug, in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben.  
    In den Fächern seines Wagens lagen mit Namensschildern versehene Tabletts voll langsam abkühlender Speisen. An jedem Wochenbeginn wurden Listen in den Krankenzimmern verteilt, auf denen die Patienten Menüs aus einem Angebot für die kommende Woche ankreuzen durften. Die kommende Woche; die nächste Woche; und die Wochen danach; die Zukunft: Kaum einer, der hier Montag für Montag seine Kreuze auf die Liste setzte, rechnete damit, vielleicht bereits vor der Zubereitung der angekreuzten Speisen entlassen zu werden.
    Als der stählerne Wagen auf das Feuer zurollte, hielt die junge Frau ihre Arme schützend über Flammen, die wohl bereits niedergebrannt waren. Was für ein Funkenschwarm mußte hochschießen, wenn dieser Stahlwagen durch die Glut fuhr. Aber der Philippine schob sein Fahrzeug langsam und vorsichtig ausweichend an der Frau, an mir, an der Glut vorbei; der kannte sich aus mit dem Feuer.
    Essen, sagte er. Wollte die Frau nicht essen? Es gab Erdbeeren zum Nachtisch. Es war doch Erdbeerzeit.
    Die junge Frau hatte ihre Augen wieder geschlossen und schien die Frage nicht gehört zu haben, schüttelte dann aber stumm den Kopf.
    Als die über Lautsprecher zum Abendessen aufgeforderten Patienten aus ihren Zimmern kamen, ihre Tabletts aus dem Stahlwagen zogen und sie dann an unserem Lagerplatz vorbei in den Aufenthaltsraum trugen, zeigte die Frau plötzlich auf das Feuer und sah mich an. Sollte ich das Feuer hüten?
    Sie wollte, daß ich blieb, wo ich war, während sie sich erhob und über den spiegelnden Flur in ihr Zimmer ging und sich dort auf ihr Bett legte. Ich sah durch die Türöffnung nur ihre bloßen Füße. Das Fenster ihres Zimmers war, wie jedes Fenster dieser Abteilung, verschraubt, aber hier mußte sie den Anblick der Wildnis mit niemandem teilen. Vielleicht hörte sie hier sogar das Rauschen der Bäume.
    Hatte sie sich wieder hinter ihren geschlossenen Lidern versteckt, in den Wasserwäldern, oder starrte sie jetzt über ihre rot lackierten Zehennägel hinweg auf die leere Wand, auf der das Tageslicht zu schwinden begann? Oder auf Wasserlilien? An der Wand stand ein Tisch, der eine aus den Beständen der Station geliehene Blumenvase voll mit Wasserlilien jener Art trug, deren Blütezeit jetzt in den Auen begann.
    So wie die junge Frau auf ihrem Bett lag, konnte sie sich den Anblick des Kameraauges ersparen, das hinter dem Kopfende des Bettes schwebte und sie Tag und Nacht anstarrte. Bett, Tisch, Wasserlilien, alles in diesem Zimmer gehörte zu einem von vielen Schwarzweißbildern, die nebeneinander auf einem großen Kontrollschirm in der Glaskanzel am Ende des Ganges flimmerten, dort, wo das Feuer brannte.
    Leere und
belegte
Zimmer waren auf diesem Schirm zu sehen, schlafende oder in sich versunkene Menschen, Menschen auf Stühlen sitzend, auf und ab gehende oder am Fenster stehende Menschen. Am späten Nachmittag, eine Stunde vor der Abendessenszeit, war am rechten unteren Rand des Kontrollschirms ein Mann im weißen Krankenhaushemd zu sehen gewesen. Er

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