Atlas eines ängstlichen Mannes
krönte einen haushohen Schuttberg.
Die seismischen Wellen des Erdbebens, das die Stadt zerstört hatte, waren so übermächtig gewesen, daß mich ihre Ausläufer auf einer weit entfernten Serpentinenstraße im Taygetos-Gebirge erfaßt und beinahe zu Sturz gebracht hatten.
Die vor dem Bildschirm Versammelten sagten kein Wort. Nachdem auch der Nachrichtensprecher verstummt war, setzte aus dem
Off
der monotone, von einer unsichtbaren Frau gesprochene Singsang einer Litanei ein, die in den kommenden Tagen von Rundfunkstationen bis in die entlegensten Bergdörfer weitergetragen werden sollte – die von Stunde zu Stunde länger werdende Namensliste der Verschollenen und Toten.
Christos wandte sich zwar kurz vom Anblick der Zerstörungen ab, um nach meiner Bestellung zu fragen, kam dann aber von der Theke nicht mit Wasser und Wein, sondern mit zwei Kerzen zurück, die er zu beiden Seiten des Bildschirms entzündete, auf dem man in diesem Augenblick einen staubbedeckten, weinenden Mann mit bloßen Händen im Schutt graben sah.
Am Rand der Wildnis
Ich sah eine junge Frau in einem spiegelblank gewischten Flur der Psychiatrischen Abteilung eines
Donauspital
genannten weitläufigen Gebäudekomplexes am östlichen Stadtrand von Wien. Die Frau kniete auf dem Kunststoffboden und versuchte, mit unsichtbarem Papier und unsichtbaren Spänen Feuer zu machen. Sie hatte das Papier, der Größe nach vermutlich Zeitungspapier, sorgfältig glattgestrichen, bevor sie es zu einem Zunderball zusammenknüllte, den sie behutsam mit Spänen und Zweigen umgab. Die Zweige brach sie aus der Luft.
Dann begann sie um das filigrane Gebilde mit Scheiten oder Holzprügeln, die sie von einem unsichtbaren Stapel hinter ihrem Rücken nahm, einen Scheiterhaufen zu errichten. Endlich war alles für ein großes Feuer bereit, ein Lagerfeuer, denn so, wie die Frau ihr Brennmaterial geschichtet hatte, konnte nur ein Lagerfeuer werden, was sie nun mit einem unsichtbaren Streichholz zu entzünden versuchte. Aber die Streichholzflamme erlosch in der Zugluft aus einem der Gänge der Abteilung, nein, erlosch in einem Windstoß. Das mußte der Wind gewesen sein. Solche Feuer brannten ja unter freiem Himmel.
Im Schutz ihrer hohlen Hand riß die Frau ein zweites und drittes Streichholz an, bis Reisig und Späne endlich Feuer fingen. Aber vielleicht war das Holz feucht, noch grün, eilig aus dem Dickicht zusammengetragen, und qualmte, denn die Frau hustete, als sie sich auf Knien vorbeugte, um den Brand anzufachen.
Der Wind, er kam offensichtlich aus östlicher Richtung, zwang sie auf die andere Seite der Flammen. Dort verfolgte sie im Schneidersitz das flackernde, vielfältige Schauspiel, das sich in ihren Augen zu spiegeln schien und sie wärmte. Sie streifte ihren blauen, mit weißen Federn gemusterten Morgenmantel ab und saß dann in einem Nachthemd von gleicher Farbe, aber ohne Federmuster, vor der Glut und schloß die Augen. Als ich sie fragte, ob ich mich an ihrer Seite wärmen dürfe, nickte sie, ohne die Augen zu öffnen, sagte aber kein Wort und begann sich wie im Rhythmus einer langsamen, gleichförmigen Melodie zu wiegen.
Wer dort saß, wo wir saßen, und sich irgendwann erhob, um seine Glieder zu strecken, und um sich blickte, konnte eine Stationsschwester in einer Glaskanzel sehen, eine fürsorgliche und unnachgiebige Frau, die oft lächelte, konnte offenstehende Zimmertüren sehen und durch die verschraubten, niemals zu öffnenden Fenster eines kahlen Aufenthaltsraumes, in dem die Patienten ihre Mahlzeiten einnahmen oder in alten Illustrierten blätterten, die fernen, lautlos rauschenden Bäume der Donau-Auen, sanft bewegte Kronen riesiger Schwarzpappeln, Silberweiden und Eichen, Wasserwälder, in denen ein Labyrinth von Altarmen der Donau, ausgedehnte Schilfseen und von blühendem Dickicht umschlossene Tümpel das Spiegelbild abendlicher Wolkentürme in den Himmel zurückwarfen.
Graureiher und Eisvögel jagten an den Ufern dieser dunklen, stillen Wasser. Auf den Ästen gestürzter Baumriesen hockten Kormorane und trockneten ihre Schwingen im letzten Sonnenlicht, während Teichrohrsänger und Zwergdommeln mit rasenden Tonfolgen die Grenzen ihrer Reviere besangen. Über savannenähnlichen, raschelnden Dürregebieten inmitten sumpfigen Urwalds konnte jeder, dem ein ärztliches Urteil einige Stunden, vielleicht sogar einen Tag Ausgang bewilligte, in thermischen Aufwindsäulen Rotmilane und Seeadler ihre Spiralen ziehen sehen, Wespenbussarde,
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