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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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querliegenden Halmen verheddert und klappte jetzt, endlich im freien Gelände, die smaragdgrün schillernden Deckflügel hoch, um sich mit den darunter liegenden, von schwarzen Adern durchzogenen Hautflügeln in die Luft zu erheben. Gleichgültig gegenüber allem, was in dieser von einem Jagdflugzeug und seinem rasenden Schatten beherrschten Welt geschah, in der Titanen seinesgleichen zertraten, ohne es auch nur zu bemerken, schwirrte er auf und in einer Schleife so knapp an meinem Ohr vorüber, daß ich seinen kleinen Fluglärm selbst im Gebrüll des Jägers zu hören glaubte. Ich lag vor seinem verlassenen Grasversteck und wagte selbst meine Augen nicht mehr zu bewegen. Als er dann schwirrend, schillernd im Sonnenlicht, aus meinem starren Blickfeld verschwand, erschien mir das dürre Büschel Gras vor mir plötzlich als Zuflucht, als rettendes Versteck, so wie in meiner Kindheit Gras- und Mooslandschaften, in die ich Spielfigürchen gestellt hatte, zu Urwäldern geworden waren, in die hinein man schrumpfen konnte und sich zwischen Schachtelhalmen, Huflattich und Löwenzahnbaumriesen verlieren.
    Dieser Urwald war die Rettung! In sein Unterholz wollte ich flüchten und fühlte, wie das Leben, die Beweglichkeit in meine Beine zurückkehrte, mein Leben, das Hämmern meines Herzschlags, als etwas an meine Schulter stieß, etwas mich traf.
    Es war Tiziana. Eine Riesin. Sie stand über mir und sprach aus einer schwindelnden Höhe in meinen Urwald, in mein Käferreich hinab. Du kannst aufstehen, sagte sie. Er ist weg.

Wilder Strand
    Ich sah einen kahlgeschorenen Greis an einem Sandstrand nahe der Grenze, die unsichtbar zwischen den brasilianischen Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro durch den Regenwald verläuft.
Praia Brava
,
der
Wilde Strand
, war nur auf einem gewundenen Lehmpfad zu erreichen, der über eine steile Bergflanke zum Atlantik hinabführte, und verdankte seinen Namen den Brechern, die sich donnernd heranwälzten und die Strandsichel in Wasserstaub hüllten. Diese Brecher schien der Kahlgeschorene anzuschreien.
    Er saß auf einer mit Gras und Blättern belegten Blechkiste unter einem Sonnenschirm, der in den Windstößen der Mittagshitze immer wieder zu kippen drohte, und war wie für einen Kirchgang oder ein Fest gekleidet. Er trug einen schwarzen, zerknitterten Anzug, ein weißes Hemd mit weitem, offenen Kragen, der seinen faltigen Hals noch dünner erscheinen ließ, und eine schwarze Krawatte, stampfte aber mit nackten Füßen den Rhythmus seiner Schreie in den Sand. Neben ihm lagen eine Korbflasche, ein Strohhut, in dem ein Plastikbeutel steckte, auf seinen Knien ein aufgeschlagenes Buch – Gebetbuch, Gesangbuch oder Bibel.
    Über dieses Buch hinweg, in das er aber keinen einzigen Blick warf, schrie er mit gefalteten Händen Gebete oder Anrufungen gegen einen kleinen Sandhügel zu seinen nackten Füßen. Dort lag eine mit zwei Kieselsteinen beschwerte Fotografie wie auf einem Altar. Das Foto, kaum größer als eine Spielkarte, zeigte das Porträt einer Frau. Ob sie zu den Lebenden oder Toten gehörte, war nicht zu erkennen.
    Fünf Minuten, vielleicht länger, schrie der Alte gegen das Bild, gegen das Meer, schwieg dann für einige Atemzüge, beugte sich mit noch immer gefalteten Händen über das Buch auf seinen Knien und küßte die aufgeschlagenen Seiten. Dann zog er aus der Innentasche seiner Jacke einen braunen Umschlag, entnahm ihm ein weiteres Bild, das er gegen das vor ihm liegende austauschte, und begann von neuem zu schreien.
    Fünf Bilder sah ich ihn so auf seinen Sandaltar legen, beschwören und wieder in den Umschlag zurückstecken. Nach dem letzten schloß er das Buch und zog aus dem Plastikbeutel ein paar Schuhe, in die er mit nackten Füßen schlüpfte. Dann saß er aufrecht, still und rührte sich auch nicht, als eine Bö seinen Sonnenschirm umwarf und davontrug.
    Ich war eben dabei, meinen Platz als unbeteiligter Beobachter aufzugeben, um dem davonspringenden und -segelnden Schirm nachzulaufen, als sich plötzlich ein Junge aus dem Schatten des Regenwalddickichts löste und mir zuvorkam. Er erreichte den Schirm dicht vor schäumend im Sand versickernden Wasserzungen, packte ihn, klappte ihn zu, klemmte ihn unter den Arm und begann in der wirren, immer wieder unterbrochenen Spur, die der Schirm im Sand hinterlassen hatte, lachend auf den Alten zuzutanzen.
    Als er ihn erreichte, bot ihm der aber nur wortlos die Hand, ließ sich von ihm hochziehen und blieb wartend stehen,

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