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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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während der Junge den Schirm wie eine Lanze in den Sand schleuderte, ihm den Strohhut aufsetzte, Flugsand von seinen Schultern klopfte und einen langen Schluck aus der Korbflasche nahm. Dann umwickelte er den Schirm mit einem zerfransten Band und legte ihn über die Schulter, nahm den Alten an der Hand und führte ihn behutsam wie einen Blinden in den Regenwald. Der Alte hielt sein Buch fest an sich gedrückt, als die beiden im Dickicht verschwanden.
    Ich blieb allein an der
Praia Brava
zurück, setzte mich probeweise auf die Blechkiste und schrie probeweise
Amen, Amen!
in den Lärm des Meeres, hatte mich aber längst wieder in den dürftigen Schatten eines Flammenbaumes zurückgezogen und lag dort schläfrig im Sand, als der Junge mit einem zerschrammten, knallroten Surfbrett wieder aus dem Wald trat.
    Ohne mich zu beachten und ohne zu zögern, lief er in die Brandung, warf sich in der brodelnden Gischt auf das Brett und paddelte mit den Händen durch die Brecher der Dünung entgegen: mächtigen Wogen, die sich wie im Takt eines Metronoms vom Horizont lösten und auf den Wellenreiter zurollten, als könnte nichts sich ihnen entgegenstellen und nichts sie brechen, kein Riff, keine Untiefe, kein Strand.

Mann am Fluß
    Ich sah einen schlafenden Mann auf einer Uferwiese der Traun, eines Flusses, der durch das oberösterreichische Alpenvorland seiner Mündung in die Donau und damit dem Schwarzen Meer entgegenfließt. Der Schläfer trug eine blauschwarz gestreifte Badehose und lag auf dem Bauch im Gras, sein Kopf ruhte auf einem zusammengeknüllten Badetuch. Um ihn herum, fast an ihn gedrängt, saßen reglos fünf Kinder in Sommerkleidern. Jedes von ihnen hielt eine aus Blättern gerollte Tüte wie einen Becher mit kostbarem Inhalt in der Hand.
    Wenn sich der Schläfer bewegte, um seine Haltung träumend zu ändern, und dann doch, manchmal mit einem kurzen Schnarchen, wieder in die Bauchlage zurückrollte, schnitten die Kinder, es waren drei Mädchen und zwei Jungen, Grimassen, zogen die Schultern in einem unterdrückten Lachen hoch, blieben aber stumm.
    Bis auf das unregelmäßig glucksende Geräusch, mit dem der Fluß einen dicht am Ufer aus dem Wasser ragenden Felsen umspülte, war es so still, daß in seltsamer Überdeutlichkeit zu hören war, wie die in einiger Entfernung auf der Uferwiese weidenden Kühe Grasbüschel abrupften.
    Die Stille wurde aber jäh unterbrochen, wenn eine Flußbremse sich in einem langsamen, zielgerichteten Anflug näherte und sich auf dem Rücken, den Schultern oder Armen des Schläfers niederließ: Dann klatschten mehrere Hände auf seine sonnengebräunte Haut. Weil jeder der kindlichen Wächter über seinen Schlaf der erste sein wollte, schlugen manchmal zwei, drei Hände auf die eine Hand, die bereits auf der Beute lag. Jäger oder Jägerin steckten die erschlagene Bremse dann in einen der Blattbecher, von denen aber nur einer bereits gefüllt war.
    Der Schläfer schien selbst unter den plötzlichen Schlägen weiterzuträumen, hielt seine Augen geschlossen. Erst, als eine der weidenden Kühe der Gruppe so nahe kam, daß ihr Schatten auf ihn fiel, hob er den Kopf, gähnte, streckte sich, setzte sich auf und strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn.
    Hatte es für die Kinder ein Schweigegebot gegeben, mußte es spätestens mit dieser Geste aufgehoben worden sein: Sie begannen gleichzeitig zu sprechen, zu erzählen, lachten, waren wie erlöst und hielten dem Erwachten ihre Blattbecher entgegen. Der ließ sich nun die Beute, Becher für Becher, in seine große, offene Hand schütteln, zählte die Bremsen, sagte eine Zahl und warf die Erschlagenen dann mit einer weit ausholenden Bewegung und wie eine Handvoll Samen ins ufernahe Kehrwasser. Libellen vollführten rasende Flugmanöver über dieser rasch davontreibenden Saat.
    Am Ende zog der Mann zwei Rollen kleiner Münzen aus seinen Kleidern und zählte für jedes Insekt, das daran gehindert worden war, sich von seinem Blut zu ernähren, eine Münze in die Hände, die sich ihm, eine nach der anderen, die höchste Beutezahl zuerst, entgegenstreckten.  
    Als alles gezählt und alles bezahlt war, wuschen die Schlafwächter ihre Hände im Fluß, hockten dann auf einem halbverfallenen Bootssteg und sahen dem Erwachten zu, wie er in den Fluß stieg und, bis zu den Knien darin stehend, mit beiden Händen eisiges Wasser schöpfte und sich damit ächzend Brust und Gesicht besprengte.  
    Umschwirrt von Bremsen, schwankenden Mückensäulen

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