Atlas eines ängstlichen Mannes
Seitenstraße, auf die ich geraten war, führen konnte. Der Feldweg zweigte von dieser Seitenstraße ab und mußte irgendwo in der Wüste enden. Auf der Karte war er nicht verzeichnet.
Ein Blick durch das Fernglas zeigte, daß der Kreuzträger dort draußen auch eine Dornenkrone trug und daß ihm offensichtlich Blut über das Gesicht lief. Er führte eine Prozession von etwa zwanzig Menschen an, die in weiße Hemden oder T-Shirts gekleidet waren und sich langsam auf die Hügelkette zubewegten, sehr langsam – schien doch das Kreuz aus schwerem, massiven Holz und ebensowenig eine Attrappe zu sein wie die Dornenkrone.
Obwohl mich plötzlich das beklemmende Gefühl überkam, schon wieder eine falsche Abzweigung einzuschlagen, überwog am Ende die Neugier: Ich bog in den Feldweg ein und rollte im Schrittempo auf die Prozession zu. Auch wenn es unauffälliger gewesen wäre, den Wagen an der Abzweigung zu parken und mich der Prozession zu Fuß zu nähern, wollte ich doch meinen Schutz, meinen Panzer – einen burgunderroten Cadillac, der mir auf dem Flughafen von Albuquerque als besonders sicheres und vor allem günstiges
Upgrade
angeboten worden war – nicht verlassen. Zu spät sah ich, daß ich auf dem von Gesteinsbrocken gesäumten und von tiefen Furchen durchzogenen Weg meinen Wagen im Fall einer Flucht nicht wenden konnte.
Und ich brauchte auch bald kein Fernglas mehr, um zu erkennen, daß ich hier nicht willkommen war. Mehr und mehr Gesichter aus der Prozession hatten sich mir oder der trotz meiner langsamen Annäherung aufrauchenden Staubfahne zugewandt, als ein dicker Mann, er ging unmittelbar hinter dem Kreuzträger, eine Tafel, die er in der Hand hielt, in einer unmißverständlichen Geste zu schwenken begann: Verschwinde! Hau ab! Nur der Kreuzträger schien keinen Atem, keine Kraft für Abwehrgesten oder auch nur einen Blick in meine Richtung zu haben.
Ich hielt in vermeintlich sicherer Entfernung an, stieg aus und hob beide Arme hoch wie einer, der sich ergeben will. Die Prozession war immer noch so weit entfernt, daß wir uns nur schreiend hätten verständigen können, aber doch nahe genug, daß ich die vier Großbuchstaben auf der Tafel des Dicken lesen konnte:
INRI . Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum
. Jesus von Nazareth, König der Juden.
Ohne auf mein Zeichen zu reagieren, reichte der Dicke die Tafel einem neben ihm stehenden Mann und bückte sich schwerfällig, bückte sich nach einem Stein!, den er nach mir warf. Der Stein, etwa faustgroß und zu schwer für einen Weitwurf, ließ zwar nur eine Staubfontäne drei oder vier Meter vor mir hochschlagen, scheuchte mich aber augenblicklich in meinen Wagen zurück. Als ich startete und einen Knall hörte, dachte ich an einen Schuß. Aber dann war es nur ein zweiter, kleinerer, vom Dicken oder einem anderen Prozessionsteilnehmer geschleuderter Stein, der auf der Motorhaube meines schönen Cadillac aufschlug.
Es wurde schwierig, im Rückwärtsgang zu flüchten. Ich konnte die gewundenen Wegränder, vor allem Gesteinsbrocken, die dort lagen, durch das Heckfenster oft nicht rechtzeitig erkennen und fuhr rumpelnd über alle Hindernisse hinweg. Dann war ich endlich wieder auf der Asphaltstraße und sah im Rückspiegel nur noch eine rote Staubfahne, in der die Prozession verschwand.
Nach der Straßenkarte mußte ich mich rechts, also südlich halten, wenn ich die
State Route
nach Santa Fe wieder erreichen wollte. Und das wollte ich nun so schnell wie möglich. Ich fuhr durch menschenleeres, steiniges Land, aber der Kreuzträger und seine Apostel – oder waren es seine Schergen? – waren mir immer noch nahe, als ein aufjaulendes Folgetonhorn jeden Gedanken unterbrach. Der Streifenwagen mußte schon eine Weile hinter mir hergefahren sein. Der blau-rot blinkende Lichtbalken in meinem Rückspiegel schien unübersehbar – aber ich hatte ihn übersehen und konnte nun bloß Befehlen folgen, die ich über einen Lautsprecher aus dem Polizeiwagen erhielt: Anhalten. Fenster auf der Fahrerseite öffnen. Beide Hände gut sichtbar auf das Lenkrad legen. Weitere Anweisungen abwarten.
Der Deputy, dem ich dann meine Dokumente durch das offene Fenster reichte, war weder beeindruckt noch erfreut, daß ich aus Europa kam. Wen ich mit meiner Raserei denn töten wollte, fragte er, mich selber oder andere
road users
.
Hier ist niemand, sagte ich.
Ich bin niemand? fragte er. Sie sehen bloß niemanden. Sie haben auch mich übersehen. Wen haben Sie sonst noch übersehen?
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