Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
zu einem Grab, vielleicht zu einer Wiege oder einem Kinderbett führte, verlor sich an den Rändern der Baugrube.
    Oaxaca! Jetzt erinnerte ich mich. Ich kannte das Gesicht des Indiomädchens aus Oaxaca – von einem breiten, grellbunten Wandgemälde, das dort über den langen Flaschenreihen einer Bar prangte. Zwei Schergen oder Tempeldiener führten auf diesem Bild ein halbnacktes Mädchen die Stufen einer Pyramide empor, an deren Spitze ein maskierter Priester vor einem blutüberströmten Steinblock wartete. Das Mädchen sollte offensichtlich als eines von vielen Menschenopfern den Blutdurst der Götter stillen, denn über die Treppenstufen der Pyramide flossen zahllose leuchtend rote Rinnsale den Flaschenreihen der Bartheke entgegen. Das Opfer schien keinerlei Widerstand zu leisten, sondern blickte mit einem so gelassenen, fast heiter versunkenen Ausdruck über ihre nackte Schulter auf die Welt der Lebenden zurück und auf jeden herab, der wie ich an der Theke stand, als sei sie durchdrungen vom aztekischen Glauben, daß jeden Geopferten ein überirdisches Glück erwarte, nachdem ihm auf dem Block die Brust mit einem Obsidianmesser geöffnet und das Herz aus dem Leib gerissen worden war.
    Das Hellgrün ihrer Augen … die Züge der Akkordeonspielerin glichen denen der Kindfrau auf den Pyramidenstufen, als habe die Straßenmusikantin dem Wandmaler in Oaxaca Modell gestanden. Und während sie weiter und weiter und wie in Trance spielte, legten sich in meiner Müdigkeit nach den vielen Stunden der Busfahrt nicht nur die Farben eines Wandgemäldes über die Straßenszene vor dem Juwelierladen, sondern stieg zur manchmal keuchenden, dann wieder fast flötenden, nie gehörten Akkordeonmusik Bild um Bild aus der Tiefe empor.
    Die Baugrube war bis zu jener acht und zehn Meter unter dem Straßenniveau der Gegenwart liegenden Ebene ausgeschachtet worden, auf der einst das versunkene Tenochtitlán, die von spanischen Eroberern zerstörte Metropole des Aztekenreiches, geglänzt hatte – eine Stadt von geradezu venezianischer Schönheit, die mit ihren farbenprächtigen Tempelpyramiden und Palästen, ihrem Gewirr von Kanälen und Deichen, Brücken, schwimmenden Gärten und auf riesigen Holzflößen driftenden Feldern als Weltwunder inmitten eines ausgedehnten, von den Zerstörern bis auf einen schlammigen Rest entwässerten Sees gelegen war. Eine Steinlawine aus Kathedralen, Kirchen, Kolonialpalästen und Handelshäusern hatte die Ruinen von Tenochtitlán schließlich unter sich begraben.
    Ich stand gebannt von der Musik der Akkordeonspielerin am Grubenrand und war trotz des Gedränges auf dem Pfad vor dem Schaufenster vielleicht ihr einziger Zuhörer, als plötzlich der Juwelier aus seinem Geschäft trat. Er ging an der Straßenmusikantin vorbei, scheinbar ohne sie zu beachten, verschwand für einige Minuten und kehrte dann mit einer Papiertüte zurück, aus der er zwei Totenschädel aus Marzipan, Zuckerguß und Schokolade zog und dem Mädchen anbot.
    Die Aztekin nahm die Geschenke mit der linken Hand, stopfte sich einen der Totenköpfe in den Mund, ließ das Akkordeon mit der rechten Hand weiteratmen, weiterseufzen und nickte kauend zu dem, was der Juwelier zu ihr sagte. Erst nachdem sie auch den zweiten Schädel verschlungen hatte, erfüllte sie, was von ihr wohl um den Preis dieser Süßigkeiten verlangt worden war, las die wenigen Münzen vom Tuch, das sie dann zusammenraffte, legte das Akkordeon in den zerschlissenen Koffer, band sich dieses übergroße, schwarze Gewicht mit zwei Stricken auf den Rücken und verschwand auf der wirren, goldgelben Spur der Totenblumen im Strom der Passanten.

Umbettung
    Ich sah einen Mauerrest an einem von Treibgut und Bruchholz übersäten Strand. Ein Mann in einem staubigen, blauen Overall war gerade dabei, diesen Rest mit weit ausholenden Schlägen einer Spitzhacke zu zertrümmern. Die abgesprengten Brocken warf er auf einen Haufen in den schwarzen Sand.
    Es war ein wolkenverhangener Sommernachmittag auf der gebirgigen
Isla Robinsón Crusoe
, der einzigen bewohnten der drei zwischen sechs- und siebenhundert Kilometer westlich des südamerikanischen Festlands im Pazifik gelegenen Inseln des Juan-Fernández-Archipels. Vor kaum vier Monaten war nach einem Tiefseebeben eine Flutwelle über San Juan Bautista, das einzige Dorf der Insel, hinweggerast. Die meisten der sechshundert Inselbewohner waren seither damit beschäftigt, Trümmerstätten wieder in bewohnbare Orte zurückzuverwandeln.

Weitere Kostenlose Bücher