Atlas eines ängstlichen Mannes
Fährt man in Europa blind?
Während ich überlegte, ob ich ihm von meiner Begegnung in den Hügeln berichten und so versuchen sollte, meine Unachtsamkeit zu erklären und die Lage zu entspannen, beantwortete ich seine Fragen, was ich in dieser Wüste denn suchte und wohin ich mit einer solchen Geschwindigkeit unterwegs sei.
Chimayo! wiederholte er plötzlich in völlig verändertem, ja freundlichem Tonfall. Aus Chimayo kam ich? Hatte ich an der Wallfahrt teilgenommen?
Ich war in Chimayo gewesen. In diesem fast ausschließlich von Einwanderern aus Mexiko und Lateinamerika bewohnten Wallfahrtsort fanden sich an jedem Karfreitag Tausende Pilger ein, aus Santa Fe, selbst aus Albuquerque und Las Vegas, um dort nach langem Anstehen vor dem
Santuario de Chimayo
, einer Lehmkirche, an einem Erdloch zu knien und daraus eine Handvoll roter Erde in mitgebrachte Gefäße zu schöpfen. Die Erde sollte Schwerkranke, selbst vom Teufel Besessene geheilt und Wunder auf dem grenzenlosen Feld menschlicher Wünsche bewirkt haben.
Auch ich hatte auf dem Beifahrersitz einen Becher voll roter Erde aus dem Santuario. Mein Gastgeber in Santa Fe hatte mich darum gebeten, als ich am Morgen zu meinem Karfreitagsausflug an den Rio Grande und nach Chimayo aufgebrochen war. Ich war in der Mittagshitze mehr als zwei Stunden Schritt um Schritt mit den Betenden vorgerückt, bis ich mich um diese Erde bücken durfte. Und auf dem Rückweg hatte ich mich verfahren, als ich dem endlosen Pilgerstrom ausweichen wollte, der sich immer noch auf das Heiligtum zubewegte. Ich hatte Menschen gesehen, die ihrem Ziel auf Knien entgegenrutschten, andere waren, laut betend, immer wieder stehengeblieben und hatten sich auf den Boden geworfen, um mit ausgebreiteten Armen ein Kreuz zu formen. Und vor und hinter den Pilgern zu Fuß krochen mit Marien- und Christusbildern geschmückte Autokolonnen dahin.
Ich zeigte dem Deputy meinen Becher voll Erde.
Healing dirt!
Er habe selber noch eine Schale davon. Elfmal hatte er die Wallfahrt bereits gemacht. Von Albuquerque nach Chimayo.
Zu Fuß?
Neunzig Meilen zu Fuß? Es gab Leute, die in der Karwoche auch das auf sich nahmen. Aber er war die Strecke mit zwei Freunden vom Harley-Davidson-Club gefahren. Aber in diesem Jahr mußte er stattdessen wieder einmal ein paar Verrückte suchen, Mitglieder einer Sekte, die sich
Penitentes
nannten und an jedem Karfreitag einen Freiwilligen aus ihrer Mitte kreuzigten, ja, ans Kreuz schlugen! Eine ganze Flotte von Streifenwagen versuchte sie Jahr für Jahr davon abzuhalten, aber sie schafften es immer wieder – in irgendeinem Canyon, auf irgendeinem Hügel in der Wüste, notfalls in einer Scheune.
Nicht, daß der Gekreuzigte wirklich sterben sollte, aber es war doch vorgekommen, nach Stunden am Kreuz war es vorgekommen. Wenn es gelang, eine Penitentes-Prozession zu stellen und damit irgendeinen freiwilligen Christus vor dem Kreuz zu bewahren, hatte man ja immer auch ein paar illegale Einwanderer als Draufgabe. Unter jedem Kreuz standen ein paar Illegale. Denen war ihr Leben offensichtlich immer noch nicht Kreuzweg genug.
Als er mir meine Dokumente durch das Fenster zurückreichte, lächelte er: Einen schönen Tag wünsche er noch. Und ich sollte auch in der Wüste auf meine Geschwindigkeit achten und daran denken, daß man an einem Karfreitag nicht nur am Kreuz, sondern auch in einem Cadillac sterben konnte.
Im Summen des Elektromotors, der das Fenster zur Weiterfahrt und zum Schutz vor der Hitze wieder schloß, hörte ich ihn plötzlich noch etwas sagen, halblaut, so als redete er nicht mehr mit mir, sondern mit sich selber und deswegen auch in der Sprache seiner alten Heimat, die irgendwo jenseits der mexikanischen Grenze liegen mußte:
Vaya con Dios.
Geh mit Gott.
Besuch aus großer Ferne
Ich sah eine Akkordeonspielerin, ein Indiomädchen, auf dem Gehsteig vor einem Juwelierladen in einer schattigen Straße von Mexico City. Das Mädchen saß mit gekreuzten Beinen an den schwarzen, hochpolierten Granit der Geschäftsfassade gelehnt und schien gegen den metallischen Lärm anzuspielen, der aus der Tiefe einer Baugrube nach oben drang. Die von gelben Plastikbändern wie umsponnene Grube klaffte über nahezu die ganze Breite der Straße und ließ nur dicht an den Fassaden schmale Pfade frei, auf denen sich Passanten drängten. Wer seinen Weg auf der Straßenseite des Juwelierladens suchte, mußte an der Akkordeonspielerin und einem ausgelegten, zu einer Art Nest gewundenen Tuch
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