Atlas eines ängstlichen Mannes
diesem Augustabend zerflossen dort nur Dunstschleier, Wasser und ein wolkenloser Himmel zu einer blaßblauen Leere. Groß und übermächtig und von westlichen Winden nur leicht bewegt, lag die Ägäis vor jedem sichtbaren und unsichtbaren Land.
Ich hörte im Windgeräusch das Gewirr so vieler über die Jahrtausende und bis in die Gegenwart erhobener Stimmen, die behauptet hatten, ein Mensch namens Homer müsse allein deswegen unsterblich sein, weil er nie gelebt habe. Kein Mensch, kein einzelner Dichter oder Erzähler könne die Kraft besessen haben, solche Heerscharen von Helden, Göttern, Kriegern, liebenden, kämpfenden und trauernden Gestalten erstehen zu lassen, die Kraft, den Kampf um Troja und die Irrfahrten des Odysseus in so zahllos verschiedenen Rhythmen, Tonfällen, Sprachfarben zu besingen, nein, das müßte das Werk einer ganzen Reihe von namenlosen Dichtern gewesen sein, Sängern, die zu einem Phantom verblaßt und von den Nachgeborenen
Homer
getauft worden waren. Ein Grabmal, errichtet vor zwei- oder dreitausend Jahren auf Ios oder an irgendeinem anderen Küstenstrich Kleinasiens oder der griechischen Inselwelt, könne, wenn überhaupt etwas, dann nur die Erinnerung an einen Chor verschollener Erzähler bewahren.
Ich dachte an die vielen von Grabräubern kaum zu unterscheidenden Archäologen und Abenteurer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, etwa den holländischen Grafen Pasch van Krienen, der 1771 den Ort, an dem ich nun die Sonne sinken sah, auf der Suche nach dem Leichnam des
Größten Dichters der Menschheit
umgepflügt hatte und später schwor, er habe ein Skelett freigelegt, das vor seinen Augen zu Staub zerfallen sei.
Wenn die abendlichen Brisen für eine Weile aussetzten und das schwache Brandungsgeräusch nicht mehr bis zur Höhe des Grabmals emporgetragen wurde, verstummte auch das Stimmengewirr um den toten Dichter. Dann wurde es so still, daß inmitten der Weite dieser Meereslandschaft selbst das Summen einer Fliege zu hören war, die Stein für Stein des Grabmals zu prüfen schien, bevor sie sich in rasenden, gierigen Manövern auf die fadendünnen Kratzer und Blutspuren an meinen Beinen zu stürzen versuchte.
Als die Sonne sich dem Horizont näherte und dabei Glanz und Form verlor und schließlich als rote Ellipse in bleigrauem Dunst versank, begann aus einer richtungslosen Ferne, zunächst kaum hörbar, dann aber rasch deutlicher und lauter, etwas zu brummen, etwas zu dröhnen, das der Lärm einer oder vieler Maschinen zu Wasser oder zu Land ebenso hätte sein können wie der eines anfliegenden Geschwaders hoch in der abendlichen Wolkenlosigkeit. Aber selbst als dieses Geräusch nicht nur das Summen einer noch im Zwielicht schillernden Fliege, sondern auch das Jammern der Windstöße in den Steinfugen des Grabmals verschluckte, war weder am Himmel noch auf dem Meer oder irgendwo zwischen den kahlen Hügeln und Berglehnen seine Quelle zu entdecken.
Erst im Fernglas, weit draußen und im Verhältnis zur Macht des Gedröhns rätselhaft winzig, sah ich eine mit Zwillingsgeschützen bestückte Fregatte der griechischen Marine auf südwestlichem Kurs an Iraklia vorüber durch eine See pflügen, die sich da und dort aufzuwerfen und wie für die Nacht mit Schaumkronen zu schmücken begann.
Unbeirrt und gleichgültig gegenüber dem Widerstand von Wind und Wellen, zog die Fregatte, auf der auch im Fernglas kein Mensch zu entdecken war, dahin, als schleppe sie eine wachsende, Himmel und Wasser erfassende Unruhe hinter sich her, eine aus der Meerestiefe emporsteigende Dunkelheit, in der ich plötzlich etwas Helles, Weißes aufplatzen sah und noch etwas Weißes – Segel!, Segel über Segel, weiß, weiß, das ganze schneeweiße, schon vom Nachtwind geblähte Tuch einer Flotte: mit klirrenden Kriegern bemannte und von Sklaven geruderte Trieren und Rahsegler, prunkvolle, unaufhaltsam dahinziehende Schiffe, die unter den Kommandos von Kapitänen mit Namen wie Agamemnon, Odysseus oder Achill Kurs nahmen auf eine dem Untergang geweihte Stadt, auf Schlachtfelder, Inseln der Liebe und der Barbarei und eine trügerische Ferne, aus der es nur eine blutige Heimkehr gab.
Ein Kreuzweg
Ich sah einen Kreuzträger auf einem steinigen Feldweg, der auf eine von Yuccas und Opuntien bewachsene Hügelkette zulief. Ich war unterwegs nach Santa Fe im amerikanischen Bundesstaat New Mexico und hatte angehalten, um an meiner Karte zu prüfen, wie weit ich mich verfahren hatte und wohin mich die
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