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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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vorbei, in dem einige Münzen lagen, und war dann so sehr damit beschäftigt, im Gedränge über dieses Tuch oder den daneben liegenden Akkordeonkoffer hinwegzusteigen, daß ihm kaum Zeit blieb, einen Blick in das Schaufenster des Juweliers zu werfen. Dort schwebte über einem mit Perlenketten, Armreifen, Diademen, Uhren, Broschen und Manschettenknöpfen geradezu überschütteten Sarg ein vergoldeter Totenschädel, der in einem lückenlosen Grinsen Zähne aus Silber zeigte. In seinen Augenhöhlen glommen moosgrüne Steine, Smaragde vielleicht. Vielleicht aber auch bloß geschliffenes Buntglas.
    Auf meinem Weg vom Busbahnhof
Del Oriente
, wo ich am Morgen aus Oaxaca angekommen war, hatte ich Schaufenster von Bäckereien und Konditoreien gesehen, in denen Skelette, Totenschädel und Särge aus Schokolade, Zuckerguß und Marzipan auslagen, Schaufenster von Möbelhäusern, in denen skelettierte Familien samt ihren skelettierten Hunden und Katzen in Küchen, Wohnzimmern und Schlafzimmern Posen eines glücklichen Lebens einnahmen: Knochenfrauen in Schürzen oder Kostümen, Knochenmänner in Pyjamas, Overalls oder Smokings, Knochenkinder in Matrosenanzügen, die mit Puppenskeletten spielten; Knochensäuglinge in schwarzen Windeln. Im Schaufenster eines Autohändlers parkte ein Kabriolett, in dem zwei Skelette in Buschhemden saßen und durch ihre Sonnenbrillen ein Skelettmädchen in kurzem Rock und hochhackigen Stiefeln anstarrten, während in einer Buchhandlung, keine hundert Schritt weiter, ein Sensenmann in einem Kochbuch mit Diätrezepten las. Es war der erste November in Mexiko. Das Land feierte die
Días de los Muerto
s, die Tage der Toten.
    In den fünf Nächten zwischen diesen letzten Oktober- und ersten Novembertagen durften die Toten nach einem schon in den Kulten der Mayas, Tolteken und Azteken verwurzelten und dann mit den Allerseelen- und Allerheiligenritualen christlicher Missionare verwachsenen Glauben als Besucher zu den Lebenden zurückkehren und wurden mit Musik, Tanz und Festmählern empfangen. Fährten aus goldgelben Cempasúchil-Blüten, einer Tagetes-Art, zeigten ihnen dabei den Weg aus ihren Gruften und Gräbern zu ihren alten Wohnungen. Auch Ringelblumen und Chrysanthemen wurden als Wegzeichen gestreut, es mußten aber gelbe, goldgelbe Blüten sein, denn allein die Farbe des Goldes schimmerte bis in das Totenreich hinab und war für den, der von dort als Besucher zurückkehrte, am leichtesten zu sehen. Entlang dieser blumenbestreuten Rückwege flackerten mit Speisen und Süßigkeiten, Seife und Parfüms gedeckte und von Kerzen erhellte Altäre, damit, wer aus dem Abgrund des Todes zurückkam, sich nicht nur stärken, sondern auch waschen und erfrischen, an diesen Gaben aber vor allem erkennen konnte, daß er nicht bloß unvergessen war, sondern immer noch geliebt wurde.
    Ich war am Rand der Baugrube stehengeblieben, hörte der Akkordeonspielerin zu und versuchte mich zu erinnern, wo ich dieses Mädchen auf meiner Reise aus der Provinz Chiapas in die Hauptstadt schon einmal gesehen hatte. Ich war überzeugt, dieses Gesicht mit den seltsam hellgrünen Augen zu kennen. Das Mädchen wiegte sich im Rhythmus ihrer Melodien und blickte über das in ihren Armen riesenhaft wirkende Instrument hinweg an mir vorbei, an den Passanten vorbei oder durch uns alle hindurch, als stünde an irgendeiner der gegenüberliegenden Fassaden die Notenschrift ihrer manchmal rasenden Tonfolgen zu lesen. Woher kannte ich dieses Mädchen?   
    Der Tag meiner Ankunft in Mexico City war der Tag der
Angelitos
, der
Engelchen
, denn nach den Selbstmördern, Unfallopfern und Ermordeten, die in der ersten der vergangenen Nächte zurückgekehrt waren, nach den Unglücklichen der zweiten Nacht, die ungetauft und ohne den Segen der Kirche gestorben waren, und den Traurigen der dritten Nacht, die diese Welt ohne den Trost von Familien und Verwandten verlassen hatten, waren in der vergangenen, der seligsten aller dieser Nächte, endlich die
Angelito
s zurückgekehrt, die toten Kinder, und sie durften bis zum Anbruch der kommenden Nacht bleiben.
    Auf den ihnen geweihten Altären hatte ich Puppen in weißen Kleidern gesehen, Plüschleoparden, Pyramiden aus Süßigkeiten und aztekische Spielzeugkrieger aus Plastik. Die Engelchen sollten ihre Freude haben an der von ihnen verlassenen Welt. Auch auf dem Gehsteig, auf dem die Akkordeonspielerin saß, lagen Chrysanthemen und Cempasúchil-Blüten verstreut, aber die goldgelbe Spur, die vielleicht

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